25.08.2021

Themenreihe Digitale Formate

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Das Neue Künstlertheater
ist ein freies Ensemble junger Theaterschaffender. Neben dem klassischen Theaterkanon forschen die Künstler:innen an neuen Arbeits- und Aufführungsstrukturen für das 21. Jahrhundert und der Verbindung verschiedener analoger und digitaler Kunstformen. Zum Repertoire gehören Inszenierungen wie Heiner Müllers "Philoktet", das Improvisations-Format "Visual Concert" und die literarische Mini-Serie "Nachrichten aus Berlin". Zusammen mit der ukrainischen Theatergruppe Tsesho entstand während der Corona-Pandemie der künstlerische Briefwechsel "MORPH" im Rahmen des Radar Ost Festivals des Deutschen Theaters Berlin. Im NKT Podcast widmet sich das Ensemble verschiedenen Themen und Fragestellungen zu neuen Perspektiven auf die Arbeit am Theater.
Blick über den Theatertellerrand

Was Theater von Netflix lernen kann Teil I

Wollen Theater moderner, flexibler sowie team- und publikumsorientierter werden, können sie sich einiges beim erfolgreichen Streaminganbieter Netflix abschauen. Wenn es nach dem Kollektiv "Neues Künstlertheater" geht, gibt es dabei zunächst 10 Dinge, wovon sie die ersten vier in Teil I ihres Beitrags beleuchten.

Themenreihe Digitale Formate

"Companies rarely die from moving too fast, and they frequently die from moving too slowly." Auf Deutsch in etwa: "Unternehmen gehen selten an zu schneller Bewegung zugrunde, und sie gehen häufig an zu langsamer Bewegung zugrunde."

Das sagt zumindest Reed Hastings, der Gründer und CEO von Netflix. Der Erfolg seines schnell wachsenden Unternehmens scheint dieser Aussage recht zu geben. Netflix ist der erfolgreichste Streaming-Anbieter mit über 200 Millionen Abonnent:innen weltweit. Täglich werden von allen Nutzer:innen insgesamt über 164 Millionen Stunden Content gestreamt. Das Streaming von Netflix macht 13% des weltweiten Internet-Traffics aus - und das alles, obwohl Netflix ursprünglich als eine Art Lieferservice für DVD angefangen hat.

Während der Corona-Pandemie sind auch viele Theater mehr und mehr dazu übergegangen, Streamings anzubieten. Natürlich lässt sich genau das, was Theater eigentlich ausmacht - das unmittelbare Live-Erlebnis - nicht im Streaming übertragen. Trotzdem haben wir vom Neuen Künstlertheater die aktuelle Situation zum Anlass genommen, in unserem Podcast die aktuelle Theaterlandschaft mit dem erfolgreichsten Streaming-Dienst zu vergleichen und uns zu fragen, was Theater sich von Netflix abschauen könnte.

Die Entwicklungsgeschichte von Netflix

Netflix wurde im Jahre 1997 von Marc Randolph und Reed Hastings gegründet, mit wenig Geld und einer einfachen Geschäftsidee. Kund:innen sollten abends nicht mehr in die Videothek laufen, sondern konnten sich DVDs nach Hause bestellen. Das Ganze wurde sehr schnell erfolgreich und machte den Videotheken-Ketten ernsthafte Konkurrenz. Dennoch hat Hastings frühzeitig erkannt, dass diese Geschäftsidee nicht ewig funktionieren würde und die Zukunft nicht in DVDs, sondern im Internet lag. So entstand früh die Idee einer Online-Videothek. Damals war die Internetgeschwindigkeit allerdings noch zu gering. 2005 ging Youtube an den Start und die älteren von uns erinnern sich sicherlich an die äußerst dürftige Qualität der ersten Youtube-Videos. Trotzdem hat Youtube gezeigt, dass Streaming generell funktionieren kann.

2007 startete Netflix dann den ersten Versuch einer Online-Videothek. Dass hier eine Revolution eingeleitet wurde, haben damals noch nicht so viele Leute erkannt. Netflix wurde nicht ernst genommen und belächelt, beispielsweise durch den Time-Warner-Chef Jeff Bewkes, der Netflix mit der albanischen Armee verglich, die ja nicht einfach mal so die Weltherrschaft übernehmen könne. Als Reaktion darauf besorgte Hastings die Kopfbedeckung der Balkantruppen für seine Mitarbeiter:innen.

Ab 2010 stiegen die Zahlen der Abonnent:innen rasant an. Trotzdem war noch ein weiterer wichtiger Schritt nötig, nämlich die Produktion eigener exklusiver Inhalte. 2013 ging mit "House of Cards" die erste eigene Netflix-Serie an den Start, die ein Riesenerfolg wurde. Nun war Netflix nicht mehr nur ein Service, sondern auch ein eigener künstlerischer Produzent. Durch den Hype um Eigenproduktionen wie "Orange Is the New Black", "Narcos", "The Crown" oder "Stranger Things" schossen die Zahlen weiter in die Höhe. Netflix konnte in immer mehr Länder expandieren. Seit 2014 ist Netflix in Deutschland verfügbar und 2017 entstand mit "Dark" die erste deutsche Netflix-Produktion.

2014 ist gar nicht so lange her, wenn man bedenkt, wie sehr Streaming-Dienste unser Leben verändert haben. Expert:innen sprechen sogar von der dritten Revolution audiovisueller Medien. Die erste Revolution war die Erfindung des Cinematographen im Jahre 1895 und damit die Entstehung des Mediums Film. Die zweite Revolution war die Einführung des Fernsehens in den 40er und 50er Jahren.

Ein wichtiger Faktor, der Netflix so erfolgreich macht, ist, dass sie sich sowohl als künstlerisches als auch als Technologie-Unternehmen verstehen. Sie sehen sich als eine Kombination von Silicon Valley und Hollywood. In beiden Bereichen gehen sie neuartige und unkonventionelle Wege und wir haben zehn Punkte herausgesucht, die sich vielleicht auf Theater übertragen lassen könnten.
Punkt 1: Publikumsanalyse

Mit über 200 Millionen Abonnent:innen kann Netflix gigantische Datenmengen auswerten: z.B. ob wir einen Inhalt komplett anschauen, wann wir pausieren, fortsetzen, zurückspulen und vieles mehr. Das hilft Netflix bei der Entscheidung, was eingekauft und produziert wird. Auch helfen die Daten bei den Empfehlungsalgorithmen und bei der Bewerbung von Inhalten. Für "House of Cards" gab es zum Beispiel zehn verschiedene Trailer, die je nach Nutzer:innen-Typ angezeigt wurden.

Theater haben natürlich keine weltweite Masse an Zuschauer:innen, die sie präzise analysieren können. Es geht auch am Theater nicht darum, den Abend komplett der Aufmerksamkeitsspanne des Publikums anzupassen. Gemeinsam in einem Raum den Abend miteinander zu verbringen, nicht anhalten oder umschalten zu können, das Ganze auch mal auszuhalten, macht ja Theater gerade aus. Aber man kann sich durch Umfragen, Gespräche oder Abstimmungen ein umfassenderes Bild vom Publikum verschaffen. Vielleicht wäre es auch mal ein spannendes Experiment, mithilfe von technischen Geräten, die die Zuschauer:innen selbst bedienen, herauszufinden, an welchen Stellen ein Theaterabend wie wahrgenommen wird. Auch könnte man Abo-Strukturen noch mehr personalisieren und intensiver nach neuen Zielgruppen suchen, die man bisher noch nicht erreicht. Denn sowohl bei Netflix als auch am Theater zeigt sich immer wieder, dass vermeintliche Nischen-Themen auch ein größeres Publikum begeistern können.

Punkt 2: Micro Services

Das Gesamtkonstrukt Netflix besteht aus Hunderten sogenannter Micro-Services. Beispiele dafür sind die Suchfunktion oder die Empfehlungsfunktion. Ironischerweise befinden sich alle diese Micro-Services auf Servern von Amazon. An jedem Micro-Service arbeitet ein unabhängiges Team von Expert:innen. Auch am Theater könnte man jeden Schritt, der zum Kauf einer Karte führt und jede Komponente, die einen Theaterbesuch ausmacht, einzeln betrachten und auch mal völlig neu denken. Von Werbung über Ticketbuchung, Garderobenservice, Angebot in der Pause bis hin zu Komponenten, die vielleicht noch erfunden werden müssen. Und dieser Gedanke führt uns direkt zu Punkt 3.

Punkt 3: Customer Centricity

Das spielt bei Unternehmen wie Netflix und Amazon eine wichtige Rolle. Es beschreibt den Vorgang, alles radikal von den Kund:innen her zu denken und ihnen die Nutzung so einfach wie möglich zu machen. Ein Beispiel am Theater wäre hier die Frage, wie man junge Menschen als Publikum gewinnen kann. Versuche von Theatern, jungen Zuschauer:innen finanziell entgegen zu kommen, z.B. durch eine Flatrate für Studierende, zeigen nicht immer nicht die erwünschte Wirkung. Vielleicht ist der Eintrittspreis gar nicht der einzige wichtige Faktor. Junge Menschen sind ja oft bereit, weitaus mehr Geld für Konzerte von Bands, Shows von Comedians oder auch mal 7 Gin Tonics an einem Abend auszugeben. Es muss also weitere Hürden dafür geben, ins Theater zu gehen, wie den organisatorischen Aufwand. Auch bei interessierten potentiellen Zuschauer:innen kann der Wunsch, ins Theater zu gehen, leicht mal im schnelllebigen Alltag in den Hintergrund geraten. Wie wäre es, wenn es am Theater ein Team gäbe, das sich nur damit beschäftigt, wie man diesen Prozess möglichst einfach und niedrigschwellig für verschiedene Zielgruppen gestaltet?

Punkt 4: Neueste Technologien im Produktionsprozess

Mit der Initiative Prodicle versucht Netflix, Technologien noch mehr in Arbeitsprozesse einzubinden, als das bisher in der Filmproduktion getan wird. Ziel davon ist die Entlastung aller Mitwirkenden zugunsten der künstlerischen Qualität. Dafür wurde die App Prodicle Move entwickelt, die sämtliche Drehdaten zentral sammelt. Informationen, die man sonst erst aus Mails oder PDFs heraussuchen musste, sind dort immer sofort für alle abrufbar. Wie wäre es, am Theater eine Proben-App zu haben, in der immer die aktuellste Strichfassung des Stückes, das Bühnenbildmodell als 3D-Animation, die Kostümskizzen, Infomaterial, Sekundärliteratur, alle Termine und Probenpläne oder die Anmerkungen zur letzten Probe abrufbar wären? Wenn man dort alle Schritte mitverfolgen könnte, immer sehen könnte, welche Abteilung gerade woran arbeitet? Wo man Fotos des gerade fertig gewordenen Bühnenbildelementes liken und kommentieren könnte? Alle Beteiligten wären mehr in Austausch. Denn obwohl man im Theater theoretisch unter einem Dach ist, kriegt man oft wenig voneinander mit.
Vielleicht könnte so eine App nicht nur Prozesse vereinfachen, sondern auch Anreiz schaffen, öfter miteinander ins Gespräch zu kommen und sich mehr als Teil einer gemeinsamen Arbeit zu begreifen.
 
Wie Theater darüber weitere Arbeits- und Produktionsprozesse verbessern könnten, indem sie sich bei Netflix entsprechende Dinge abschauen, zeigt Teil II des Beitrags.
 
Der Beitrag erschien zuerst als Folge des NKT Podcasts, gesprochen von Lukas Schrenk. Recherchiert hat er diesen Podcast gemeinsam mit Benjamin Kohler. Unterstützen können Sie die Arbeit des NKT über Patreon.
 
Quellen:
 

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