27.08.2021

Themenreihe Führung

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Das Neue Künstlertheater
ist ein freies Ensemble junger Theaterschaffender. Neben dem klassischen Theaterkanon forschen die Künstler:innen an neuen Arbeits- und Aufführungsstrukturen für das 21. Jahrhundert und der Verbindung verschiedener analoger und digitaler Kunstformen. Zum Repertoire gehören Inszenierungen wie Heiner Müllers "Philoktet", das Improvisations-Format "Visual Concert" und die literarische Mini-Serie "Nachrichten aus Berlin". Zusammen mit der ukrainischen Theatergruppe Tsesho entstand während der Corona-Pandemie der künstlerische Briefwechsel "MORPH" im Rahmen des Radar Ost Festivals des Deutschen Theaters Berlin. Im NKT Podcast widmet sich das Ensemble verschiedenen Themen und Fragestellungen zu neuen Perspektiven auf die Arbeit am Theater.
Blick über den Theatertellerrand

Was Theater von Netflix lernen kann Teil II

Wollen Theater moderner, flexibler sowie team- und publikumsorientierter werden, können sie sich einiges beim erfolgreichen Streaminganbieter Netflix abschauen. Das Kollektiv "Neues Künstlertheater" beleuchtet dazu 10 konkrete Punkte.

Themenreihe Führung

Während es in Teil I des Beitrags um die Verbesserung digitaler Prozesse und Formate ging, zeigt Teil II, wie Theater mit Blick auf Netflix ihre Arbeits- und Produktionsprozesse verbessern können.
 
Punkt 5: Der Writers Room

Das ist zwar keine Erfindung von Netflix, sondern eine Arbeitsweise, die über Jahrzehnte in der amerikanischen Filmindustrie gewachsen ist, die aber auch bei Netflix zum Einsatz kommt. Der Writers Room ist ein wichtiger Faktor für die hohe Qualität von Serien, wie wir sie seit den 2000er Jahren aus den USA kennen. Dieses Prinzip bedeutet, dass die Serie von einem Team mehrerer Autor:innen entwickelt wird, die am gleichen Ort arbeiten und die meisten kreativen Schritte gemeinsam gehen. Auch am Theater könnte man Teams für das Entwickeln von Stücken einsetzen und damit mehr Eigenproduktionen kreieren. Neben dem klassischen Werke-Kanon gäbe es mehr Stoffe mit lokalem oder aktuellem Bezug: Themen aus der Stadt, der Region, einer speziellen Zielgruppe, aktueller Geschehnisse oder des Zeitgeistes. Der Writers Room könnte das Stück auch immer weiterentwickeln und dem Tagesgeschehen anpassen. Die Proben wären dann nicht mit der Premiere vorbei, sondern ein ständiger Prozess. Theater hätte dadurch eine einordnende Funktion wie z.B. eine Late Night Show. Es würde unter der Woche etwas passieren, - in der Weltpolitik oder vor Ort - und man wäre gespannt, wie dies im Theater aufgegriffen und behandelt werden würde.

Punkt 6: Das Showrunner-Prinzip

Ein:e Showrunner:in ist, wie der Name schon sagt, die hauptverantwortliche Person für eine Serie. Eine Position, die für die deutsche Filmindustrie noch sehr ungewöhnlich ist. Showrunner:innen haben eine leitende Funktion im Writers Room und begleiten den Prozess von der Grundidee über die Dreharbeiten bis hin zur Postproduktion. Die großen Streaming-Dienste arbeiten meistens nach diesem Prinzip und auch deutsche Netflix-Produktionen haben Showrunner:innen. Der Vorteil: Es gibt immer eine Ansprechperson, bei der alle organisatorischen und künstlerischen Prozesse zusammenlaufen.
 
Am Theater würde so eine Position die klassische Rollenverteilung ziemlich auf den Kopf stellen: Showrunner:innen hätten hier die Initialidee für ein Stück. Sie würden einen Writers Room gründen und dort das Stück gemeinsam mit einem Team schreiben. Im nächsten Schritt würden sie passende Leute für Regie, Bühne und Kostüme engagieren und gemeinsam ein Konzept für die Umsetzung des Stoffes entwickeln. Sie würden mit den technischen Gewerken kommunizieren und den gesamten Probenprozess begleiten. Die Hierarchie aus dem klassischen Regietheater würde sich dadurch natürlich etwas verschieben. Aber warum sollte die Regie nicht auch mit im Writers Room sitzen und man sich einfach viel mehr als Team begreifen?

Punkt 7: Risikobereitschaft

Reed Hastings hat kürzlich ein Buch mit dem Titel "No rules rules" ("Keine Regeln") herausgebracht. Er vertritt darin die Philosophie, dass ein System nicht versuchen sollte, Fehler zu vermeiden, da diese langfristig nicht so eine große Rolle spielen würden. Was wirklich langfristig zähle, seien neue revolutionäre Ideen. Die entstünden nur dann, wenn man Risiken eingehe. Obwohl Theater hauptsächlich subventioniert werden, nimmt der Auslastungsdruck in den letzten Jahren zu. Das führt zu einer schrumpfenden Risikobereitschaft an Theatern. Warum und wie Netflix trotz des wachsenden Druckes auf dem Streaming-Markt risikobereit agiert, zeigen die folgenden Punkte.
Punkt 8: Flexibilität statt Effizienz

Laut Reed Hastings sind viele Unternehmen heutzutage - auch einige künstlerische Einrichtungen - geprägt von einer postindustriellen oder sogar industriellen Arbeitsstruktur. Es gebe eine Führungsperson an der Spitze und viele Angestellte, die auf Anweisung handelten. Innerhalb dieser Struktur brauche man viele Kontrollmechanismen wie Überwachung und Sanktionierung, um zu verhindern, dass etwas schieflaufe. Eine solche Struktur, die vielleicht in einer Fabrik gut funktioniere, ist laut Hastings nicht der richtige Weg in einem kreativen Unternehmen. Sie mache das Unternehmen nämlich starr und unflexibel. Sobald sich der Markt verändere, könne man nicht schnell genug reagieren. Flexibilität ist daher für Hastings wichtiger als Effizienz. Mitarbeiter:innen bei Netflix können selbst entscheiden, wann und wie viel Urlaub sie machen, wie sie Gelder einsetzen und sind auch in künstlerischen Entscheidungen sehr autonom. Das ist grundlegend anders als in herkömmlichen Studios und Sendern, wo alles auf vielen Ebenen geprüft und korrigiert wird. Hastings Idealvorstellung von Netflix sei, dass er als CEO selbst gar keine Entscheidungen mehr treffe, sondern lediglich Impulse und Anregungen gibt. Ein Beispiel hierfür ist die Erfolgsserie Stranger Things. Aus dem Drehbuch sei wohl nicht unbedingt hervorgegangen, dass sie mit Sicherheit ein Erfolg werden würde. Aber die Mitarbeiter:innen hätten sehr für die Serie plädiert und die Möglichkeit erhalten, das Projekt anzugehen. Diese hohe Autonomie sei neben der guten Bezahlung ein Grund, warum viele Spitzenleute zu Netflix wechseln würden. Weniger Überprüfungsmechanismen, mehr Autonomie und eine insgesamt flexiblere Struktur, um auf veränderte Gegebenheiten zu reagieren, würden der Theaterwelt sicherlich auch guttun.

Punkt 9: Candor

Ein sehr wichtiger Begriff bei Netflix, der so viel wie Offenheit bedeutet. Damit sind vor allem eine hohe Transparenz und eine intensive Feedback-Kultur gemeint. Mitarbeiter:innen bei Netflix erhalten Einblick in strategische Überlegungen oder sensible Daten wie Quartalszahlen noch vor deren Veröffentlichung. Dabei wird das Risiko in Kauf genommen, dass Informationen an die Presse oder an die Konkurrenz geleakt werden. Mitarbeiter:innen werden in wichtige Entscheidungen miteinbezogen und nach ihrer Meinung gefragt - zum Beispiel kürzlich darüber, wie es während der Pandemie weitergehen soll.
 
Mehr Transparenz ist eine häufige Forderung in der aktuellen Theaterlandschaft. Sie könnte dazu beitragen, dass Mitarbeiter:innen sich weniger als fremdbestimmte Angestellte und mehr als aktiven Teil einer künstlerischen Einrichtung sehen. In regelmäßigen Feedback-Prozessen werden Mitarbeiter:innen bei Netflix gefragt, was anders laufen würde, wenn sie CEO wären. Das könnte man auch am Theater praktizieren. Was wäre anders, wenn du Intendant:in wärst? Untereinander gibt man sich direktes und schonungsloses Feedback, aber immer auf eine respektvolle Art. Hastings vergleicht den gegenseitigen Anspruch gerne mit einer Mannschaft im Spitzensport. Das führt uns zum letzten Punkt.

Punkt 10: Teamarbeit

Die Fähigkeit im Team zu arbeiten, wird bei Netflix als genauso wichtig angesehen wie die individuelle Leistung. Der Vergleich mit einem Team im Hochleistungssport ist nicht zufällig gewählt. Viele Unternehmen vergleichen sich gerne mit einer Familie. In einer Familienstruktur ist es laut Hastings aber deutlich schwieriger, konzentriert auf ein gemeinsames Ziel zuzusteuern und offen und ehrlich Kritik aneinander zu üben. Gleichzeitig ruft Hastings dazu auf, "brilliant jerks" nicht zu tolerieren. Der Schaden, der dadurch innerhalb der Teamarbeit entsteht, sei einfach zu hoch. Auch diese Diskussion wird aktuell an Theatern geführt. Spannenderweise bekennt sich ein so erfolgreiches Unternehmen wie Netflix zur Devise "No genius jerks". Es wird dabei nicht nur moralisch, sondern auch qualitativ argumentiert. Ein Theater ohne "genius jerks" könnte also nicht nur fairer und offener sein, sondern vielleicht auch einfach besseres Theater machen.

Das wären die zehn Punkte. Natürlich ist Theater nicht wie Netflix und sollte es auch überhaupt nicht sein. Netflix ist ein Unternehmen. Das große Ziel ist es, kommerziell erfolgreich zu sein und möglichst viele Abonnements zu verkaufen. Ein Theater will das natürlich auch, hat aber noch viele andere Funktionen und Aufgaben und sollte nicht ausschließlich an diesen Maßstäben gemessen werden. Kritiker:innen wie der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Marcus S. Kleiner sehen in Streaming-Diensten sogar eine Gefahr für die Demokratie, da die Empfehlungsalgorithmen uns entmündigen und uns nur noch Inhalte zuspielen könnten, die wir vermeintlich sehen wollen. Bildung und Mündigkeit, so Kleiner, finde erst dann statt, wenn wir mit etwas außerhalb unserer Filterblase konfrontiert würden. Genau das können kuratierte Formate wie Theater leisten. Trotzdem lohnt sich so ein Blick auf Unternehmen wie Netflix, die inhaltlich und strukturell ihrer Zeit immer einen Schritt voraus sind, um aus neuen Perspektiven auf die Arbeit am Theater zu schauen.
 
Der Beitrag erschien zuerst als Folge des NKT Podcasts, gesprochen von Lukas Schrenk. Recherchiert hat er diesen Podcast gemeinsam mit Benjamin Kohler. Unterstützen können Sie die Arbeit des NKT über Patreon.
 
Quellen:
  • Die Netflix-Revolution, Oliver Schütte, Midas Management Verlag AG, 2019.
  • https://www.nytimes.com/2010/12/13/business/media/13bewkes.html
  • https://medium.com/refraction-tech-everything/how-netflix-works-the-hugely-simplified-complex-stuff-that-happens-every-time-you-hit-play-3a40c9be254b
  • https://www.welt.de/kmpkt/article205586637/So-werden-bei-Netflix-und-Co-Serien-gemacht.html
  • https://about.netflix.com/en/news/from-script-to-screen-empowering-production-with-technology
  • https://help.netflix.com/de/node/100386
  • https://www.forbes.com/sites/danpontefract/2019/02/04/the-netflix-decision-making-model-is-why-theyre-so-successful/
  • https://medium.com/swlh/3-reasons-why-netflix-became-so-good-at-changing-your-behavior-54b0e50cdb99
  • https://netflixtechblog.com/supporting-content-decision-makers-with-machine-learning-995b7b76006f
  • https://www.comparitech.com/blog/vpn-privacy/netflix-statistics-facts-figures/
  • https://www.deutschlandfunkkultur.de/streamingdienste-die-illusion-der-konsumentenfreiheit.1008.de.html?dram:article_id=485050

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