16.06.2022

Buchdetails

Die Dynamik digitaler Kunstvermittlung als Linse: Design, empirische Forschung und Theoriebildung in der Kunst- und Museumspädagogik
von Anja Marie Gebauer
Verlag: kopaed
Seiten: 400
 

Buch kaufen (Affiliate Links)

Autor*in

Aileen J. Becker
promoviert am Max-Weber Kolleg in Erfurt über christliche Gemeinschaftsbildung. Zuvor leitete sie das Projekt "Provenienzforschung" für die Städtischen Sammlungen der Universitätsstadt Tübingen und absolvierte ein Volontariat im Bereich Sammlungsmanagement und Ausstellungen bei der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz in Kooperation mit dem Historischen Museum der Pfalz Speyer. Sie studierte Archäologie, Geschichte und Altphilologie in Konstanz und Freiburg und ist im Kulturmanagement und der Provenienzforschung zertifiziert.
Buchrezension

Die Dynamik Digitaler Kunstvermittlung als Linse

Die Vermittlung von Bildkompetenz und Reflexion ästhetischer Erfahrung sind in einer von Bildern geprägten Welt so bedeutsam wie nie, zumal die digitale Revolution für ein steigendes Überangebot sorgt. Zugleich ist Teilhabe der Nutzer*innen auch in Museen nicht nur im Sinne einer Rezeption, sondern im Sinne einer (Mit-)Produktion seit Jahren ein wichtiges Kernthema. In ihrer Dissertation "Die Dynamik Digitaler Kunstvermittlung als Linse" verbindet Anja Gebauer daher die äußeren Faktoren und innersten Bedürfnissen mit einer kritischen Kunst- und Museumspädagogik.
 
Die Autorin und ihr Forschungsvorhaben
 
Der Band ist 2021 als Teil der Schriftenreihe ‚Kontext Kunstpädagogik‘ des Münchner kopaed-Verlages erschienen und wurde als Dissertation am Institut für Kunstpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München verfasst. Im Fokus steht ein Forschungsprojekt, in dem die Autorin die Umsetzung einer mobilen Anwendung als digitales Vermittlungsangebot plante, die mit der Städtischen Galerie im ‚Lenbachhaus und Kunstbau München‘ entstand. Das "Lenbachhaus" besitzt die weltweit größte Sammlung zur Kunst des ‚Blauen Reiter‘ und befindet sich in der Villa des Malers Franz von Lenbach im Kunstareal München. Der Maler hatte eine Tochter mit Namen Marion, die Namenspatin des Projektes der Autorin ist: "Mit Marion durch den Blauen Reiter". Aus der Perspektive der kindlichen Hausherrin sollten junge Museumsbesucher*innen animiert werden, sich selbst ein Museumserlebnis zu kreieren und sich so die Kunst anzueignen. Der zeitliche Abstand zwischen dem Künstler von Lenbach und den behandelten ‚Blauen Reitern‘ wird nicht von Gebauer reflektiert, schwebt also diskrepant im Raum. 
 
Eindeutig und klar strukturiert ist hingegen die Forschungsarbeit selbst. Anja Gebauer, die aktuell im Bereich der digitalen Bildung und Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle tätig ist, umreißt zunächst theoretische Grundlagen der Kunstpädagogik und Medialität, auf der die aktuelle (digitale) Kunstvermittlung aufbaut. Im zweiten Kapitel arbeitet sie einen Paradigmenwechsel heraus, der mit der Digitalisierung einhergeht, Museen in ihrer täglichen Arbeit betrifft und die Vermittlung in besonderer Weise fordert. Mobile Anwendungen als digitale Vermittlungsmethodik werden dabei besonders hervorgehoben. Sodann wird im dritten Kapitel die Nutzung mobiler Endgeräte und die Software fabulAPP, die durch die ‚Landesstelle für nichtstaatliche Museen Bayern‘ zur Verfügung gestellt wurde, ins Zentrum gerückt und das Forschungsprojekt besprochen.[1] Es folgen zwei Kapitel zu Forschungsmethodik, -durchführung und -ergebnissen. Den Schluss bildet ein Ausblick. Erwähnenswert ist noch der Anhang mit 76 Grafiken zu den entstandenen Produkten der Kinder. Die Kreativität der Kinder im Umgang mit kunsthistorischen Inhalten und die Qualität der Ergebnisse in Form von Prototypen sind beeindruckend.
 
Vernetzung aus Mensch und Maschine
 
Gebauer verfolgt mit der Arbeit ambitionierte Pläne und will das Verständnis von Lernen und Bildung fundamental erweitern. Dafür setzt sie ihre Forschung in einen gesellschaftspolitischen Rahmen, der die "digitale Ära" und "Vernetzungen aus Mensch und Maschine" zum Thema hat. Die von ihr eingesetzte Methodik und Empirie soll "der Kunst- und Museumspädagogik dazu dienen, die Spezifik digitaler Kunstvermittlung zu bestimmen und digitale Transformationsprozesse zunehmend fundiert gestalten zu können" (S.14). Hierbei gehe es nicht um ein überambitioniertes Angebot für alle, sondern eine medienkritische und emanzipierte Konzeption digitaler Formate sowie die Entwicklung innovativer Ansätze durch die Partizipation von Nutzer*innen. Zu den in diesem Sinne gewandelten Aufgaben einer Kunst- und Museumspädagogik muss Gebauer zufolge daher gehören, individualisierte Zugänge zu schaffen und diese in die digitale museale Bildungsarbeit zu integrieren, wie das seit Jahren bundesweit in der analogen Museumsarbeit über partizipative Projekte getan wird.[2]
 
Participatory Design-Projekt
 
Ziel des Forschungsprojektes war eine zeitgemäße digitale Methode der musealen Kunstvermittlung für, von und mit der Zielgruppe Kinder selbst zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren. Unter pädagogischer Anleitung konzipierten Schulkinder nach eigenen Ideen mobile Anwendungen zur Vermittlung der Lenbacher Kunstausstellung zur Gruppe ‚Blauer Reiter‘. Die Vorgehensweise sollte sich am Participatory Design orientieren, welches vorsieht, die späteren Nutzer*innen des Angebots direkt und aktiv am Gestaltungsprozess zu beteiligen. Jede Schulgruppe mit Kindern im Alter von zehn bis dreizehn Jahren war mit einem Tablet-PC ausgestattet, der als Kamera, Dokumentationsspeicher und Annäherungsinstrument diente. Studierende begleiteten den Prozess, allerdings nicht als Designer*innen, sondern als Unterstützung in der Konzeption und Entwicklung. Letzteres bezieht sich auf die digitalen Bildungsformate, die von den Studierenden mithilfe der Software ‚MIT App Inventor‘ umgesetzt wurden. Die verwendete Methode des Design Thinking läuft schrittweise in flexiblen Phasen ab: Verstehen, Beobachten, Standpunkt definieren, Ideen finden, Prototypen entwickeln und testen. Am Ende waren fünf Prototypen der Museums-App "Mit Marion durch den Blauen Reiter" entstanden. Allerdings unterstreicht Gebauer, dass die reine Entwicklung mobiler Anwendungen nicht das Projektziel darstellte, da dies zu nah am kommerziellen Gedanken der Produktgestaltung ausgerichtet sei. Vielmehr ging es darum, den Kindern zu ermöglichen, eigene Ideen und Ansätze in Form digitaler Prototypen zu entwerfen. 
Beobachtungen und Ergebnisse

Überlegungen zu professionellem Layout, einem zielgerichtetem User-Experience-Design, fehlerfreier Programmierung oder pädagogische Einbettung der jeweiligen mobilen Anwendung der Kindergruppen wurden bei der Gestaltung der App nur am Rande bedacht. Bei der Herstellung von Konsumgütern üblichen Analyseaspekten wie Grafikdesign, Navigation, Usability oder technische Umsetzung wurden eher vernachlässigt, um die Aufmerksamkeit möglichst auf die Konzeption kreativer Inhalte zu legen. Insgesamt ermöglichen die Arbeiten der Kinder, die Bedürfnisse der Zielgruppe hinsichtlich digitaler Kunstvermittlung im musealen Kontext zu erschließen. Zugleich geben die Designvorschläge Auskunft über die kindlichen Denk- und Umgangsweisen im Bereich der Kunstrezeption.  Dies reicht vom Teilen eigener Gedanken (z.B. Warum Blau? Warum ein Reiter?), Einholen von Meinungen (Was gefällt dir an Klee? Schreib uns Deine Geschichte in die Kommentare!) und Quizfragen (z.B. Finde zehn Fehler im Bild!) bis hin zum Nachvollziehen von Farbwirkungen durch Interaktion über Memory und Auswahlwerkzeuge. Darin zeigt sich, dass Kinder das Museum als anregendes Umfeld mit Lernpotential ansehen, welches Offenheit für individuelle Annäherungen zulässt. Dementsprechend entwickelten die teilnehmenden Kinder Angebote, die nicht lediglich auf Inhaltsvermittlung, sondern ebenso auf Austausch, persönliche Meinungen und Perspektiven setzen. Das Digitale fungiert hier also nur als Werkzeugkasten zur Erweiterung verschiedenster Möglichkeiten im Umgang mit den Kunstwerken, um damit auf motivierende Art und Weise Erfahrungen anregen zu können. 
 
Fazit

Gebauer schreibt anspruchsvoll, bleibt aber immer verständlich und belegt fundiert ihre Quellen. In Bezug auf die App hatte die Autorin eingeräumt, dass es nicht darum gehen sollte, ein neues Produkt auf dem Kulturmarkt zu positionieren, sondern eine exemplarische Durchführung eines partizipativen Vermittlungskonzeptes in Form einer mobilen Anwendung mit offenem Ausgang. Das ist ihr gelungen. Den gesellschaftspolitischen Mehrwert, den sie sich etwas überheblich versprochen hat, hat das Projekt dabei sicher nicht erfüllt, weil die Vision ein Luftschloss war. Das ist durchaus nicht schlimm, kann sogar für Kulturschaffende, die selbst kreativ im Vermittlungsbereich tätig sind, anregend und bestätigend sein, insofern ist es eine gute Lektüre für Menschen wie Gebauer, die digital affin und kulturell tätig sind oder umgekehrt und sich an parizipativen Formaten probieren oder experimentieren wollen.
 
Die Höhenflüge erdet der Gedanke, dass das Museum als Verhandlungsraum einem aktiven Umgang mit Kunstwerken dient, wo Inhalte und Zugangsweisen entworfen werden, die eine gesellschaftspolitische Relevanz aufweisen. In Museen - ich würde das bewusst nicht auf Kunstmuseen beschränken - wird nicht nur konsumiert, was das Museum anbietet, sondern auch über die Art der Rezeption selbst entschieden. Museumsbesuchende der Gegenwart wollen zunehmend selbst mitgestalten. Die Kinder im Projekt haben gezeigt, dass sie dazu nicht nur in der Lage sind, sondern dass das Konzept des Participatory Design mehrdimensional Erfolg hat. So ist der Weg, eine medienkritische, emanzipierte und fundierte Konzeption medialer Formate, die Entwicklung innovativer Ansätze sowie das Initiieren von Partizipation durch gesellschaftliche Gruppen das eigentliche Ziel gewesen.
 
Die vorliegende Arbeit trägt darüber hinaus dazu bei, Design Thinking museal weiter zu etablieren und die Teilhabe zu stärken.[3] Ähnliche Konzepte finden sich inzwischen auch andernorts, so nutzte zum Beispiel das Badische Landesmuseum Karlsruhe 2018 die Methoden des Design Thinking im Rahmen eines Bürgerbeteiligungsprozesses: Bürger entwickeln Ideen für die Digitalisierung des Badischen Landesmuseums Karlsruhe (techtag.de). Wir dürfen gespannt sein, wie sich dieses Spielfeld in Zukunft weiterentwickelt.

[1] Die Software wird als Baukasten für digitales Storytelling im Museum angeboten: Home | fabulAPP - Baukasten für digitales Storytelling im Museum
 
[2] Gesser, Susanne/ Handschin, Martin/ Jannelli, Angela/ Lichtensteiger, Sibylle (Hgg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen. Transcript (Bielefeld 2012).
 
[3] Das Badische Landesmuseum Karlsruhe nutzte 2018 die Methoden des Design Thinking im Rahmen eines Bürgerbeteiligungsprozesses: Bürger entwickeln Ideen für die Digitalisierung des Badischen Landesmuseums Karlsruhe (techtag.de)

Bücher rezensieren

 
Möchten auch Sie Bücher für Kultur Management Network rezensieren? In unserer Liste finden Sie alle Bücher, die wir aktuell zur Rezension anbieten:
 
Schreiben Sie uns einfach eine Mail mit Ihrem Wunschbuch an
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB