14.11.2018

Autor*in

Markus Wiesenhofer
ist Stv. Leiter der Hauptabteilung Kommunikation & Marketing der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien und unterrichtet Kulturtourismus & -marketing u.a. an der FH Wien, JKU Linz und dem Art & Economy Lehrgang der Universität für Angewandte Kunst Wien. Er studierte Tourismusmanagement an der Fachhochschule IMC Krems und Public Communication an der Universität Wien und arbeitet seit 20 Jahren in Kulturtourismus und -management (u.a. Schloß Schönbrunn Kultur- und Betriebsges.m.b.H., Österreich Werbung).
Buchrezension

Die Welt im Selfie: Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters

Tourismus zählt zu den wichtigsten Wirtschaftsbereichen des 21. Jahrhunderts. Wie dieses zum "touristischen Zeitalter" wurde und welche Folgen diese Entwicklung auch für den Kulturbereich hat, beleuchtet Marco d’Eramo vielschichtig in "Die Welt im Selfie".
Die wichtigste Industrie des Jahrhunderts

Ursprünglich wollte Marco d’Eramo mit seinem 2018 beim Suhrkamp Verlag erschienen Buch dem urbanen Phänomen der "Touristenstadt" nachforschen. Als jedoch angesichts der stetigen Zuwächse und immer stärker sichtbaren negativen Aspekte des Tourismus "Overtourism" (= Ein Übermaß an Tourismusintensität) zum medial heiß diskutierten Wort des Jahres wurde, machte er daraus eine grundsätzliche Analyse der touristischen Gesellschaft. In einem philosophischen Diskurs beleuchtet der Autor - wissenschaftlich fundiert und trotzdem leicht verständlich - Perspektiven und Aspekte der Tourismusentwicklung.

Das Buch eröffnet mit einer überzeugenden Erklärung, warum der Tourismus zur "wichtigsten Industrie des Jahrhunderts" aufgestiegen ist. Daten und Fakten belegen die Bedeutung dieser Wirtschaftsbranche und die ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Wachstums. Ausführlich wird anschließend mit Hilfe von historischen Belegen (von Louis-Antoine de Bougainville bis Mark Twain) die Entstehungsgeschichte des modernen Tourismus nachgezeichnet.

Gründe für den Erfolg

D’Eramo erörtert die unterschiedlichsten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen (von der Mobilität über Arbeitszeitgesetze), die zum Aufstieg des Tourismus geführt haben. Als ehemaliger Student von Pierre Bourdieu beleuchtet er anschließend aus philosophischer und soziologischer Sicht grundlegende Aspekte und Motive des Tourismus, wie z.B. die Suche nach "Authentizität" und dem "Anderen". Das scheinbar ewige Dilemma, "Echtheit" zu definieren, ist dabei gerade im Tourismus besonders evident. Anhand des Welterbe-Orts Lijiang in China und der Spielerstadt Las Vegas verhandelt er zwei besonders plakative Beispiele für vermeintliche "Echtheit" und deren unterschiedliche kulturelle Deutung in westlichen und östlichen Kulturen. So wurde die chinesische Stadt erst durch den "unechten" Nachbau zu einer Welterbestätte und entwickelte sich dennoch zu einer der wichtigsten Destinationen in China.

Zudem zeigt D’Eramo erstaunliche Parallelen zwischen Geschichte und Gegenwart des Tourismus auf. So wird z.B. schnell offensichtlich, dass auch das heute ubiquitäre "Selfie" kein wirkliches Novum darstellt, sondern als "Markierung von Raum, Zeit und Mensch" nur einem touristischen Grundmotiv folgt. Das Setzen von "Markern" auf der Landkarte ist seit Beginn der Reisetätigkeit ein wesentlicher Teil der Tätigkeit von Reisenden.

Einige wesentliche Erfolgstreiber des Tourismus, wie etwa der Drang zum sozialen Aufstieg durch Reisen, werden im Detail erläutert. Mit der "Zonierung der Seele", einem Konzept aus dem "Urban Planning" (klare Unterscheidung unterschiedlicher Funktionsräume), versucht der Autor zu erklären, warum Touristen sich in ihrer Freizeit gänzlich anders verhalten als im Alltag. Menschen trennen demnach ganz bewusst Verhaltensweisen in unterschiedlichen Lebenssituationen und verhalten sich somit auch in unterschiedlichen Rollen jeweils anders. Verschiedene Formen des Tourismus werden exemplarisch behandelt (von Kulinarik- bis Pilgertourismus), sodass die Vielfalt der Branche erkennbar wird. Der Kulturtourismus zeigt sich dabei als einer der wichtigsten und besonders dynamisch wachsenden Bereiche. Über die sogenannte "Terraforschung" (Blickwinkel aus dem Weltall) versucht Marco D’Eramo zudem einen Blick von Außen auf das oft absurde Verhalten der Menschheit im Tourismus. Als Beispiel dafür wird oft das Urlaubsverhalten unterschiedlicher Reisegruppen gezeigt, das wohl schwerlich als erholsam erachtet werden kann.
 
Tourismus als "Gefahr" für Städte?

Besonders vehement formuliert der Autor seine tourismuskritische Sicht, wenn er auf den Ausgangspunkt seiner Analyse zurückkehrt: "den Städtemord durch den Tourismus". D’Eramo legt anhand vieler internationaler Beispiele dar, wie das kapitalistische Streben nach immer mehr Tourismuswachstum Städte wie z.B. Venedig aushöhlt und langsam sterben lässt. Sobald der Tourismus zu stark dominiert, gerät die Balance des öffentlichen Lebens aus dem Gleichgewicht. Das gut gemeinte Schützen von Kulturerbestätten - wie über das UNESCO Weltkulturerbe - wirkt aus seiner Sicht sogar kontraproduktiv und führt in vielen Fällen nur zu einer Beschleunigung des fatalen Prozesses. Was als Kritik an der Tourismusindustrie beginnt, wird schnell zu einer allgemeinen Kritik der gesellschaftlichen Entwicklung und endet schließlich mit der Erkenntnis, dass die touristische Wahrnehmung bloß die besondere Weltwahrnehmung unserer Gesellschaft ist. Der insgesamt eher kulturpessimistische Blick des Autors schließt mit der These, dass nach dem rasanten Aufstieg unweigerlich der Fall des touristischen Zeitalters folgen muss. Seine Kritik am Tourismus ist dabei gleichzeitig eine Abrechnung mit der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft.

Fazit

Dem renommierten italienischen Journalisten Marco d’Eramo ist mit seinem neuen Buch ein bemerkenswert kritischer Beitrag zur aktuellen Diskussion über das schnelle Wachstum des globalen Tourismus gelungen. "Die Welt im Selfie" ist dabei eine unterhaltsame Tour d’Horizon durch die Tourismusentwicklung und die ideale Lektüre für den kritischen Reisenden, der daraus psychologische und soziologische Hintergründe zu seinem Metier erfährt. Lesende aus dem Kulturmanagement erhalten zudem einen umfassenden Einblick in das System und die Dynamiken des Tourismus. Die gut recherchierten weiterführenden Quellen animieren dazu, sich in die einzelnen Themen zu vertiefen.

Leider versäumt das Buch die Chance, neue technologische Möglichkeiten und damit einhergehende Verhaltensänderungen genauer zu untersuchen. Der Titel "Die Welt im Selfie" führt so wohl manche Interessenten beim Gedanken an eine Auseinandersetzung mit aktuellen Technologien etwas in die Irre.

So sehr sich der Autor auf sein philosophisches Fundament stützen kann, so verliert er sich doch in manchen Kapiteln etwas in Detailaspekte, die wenig mit dem Kernthema zu tun haben. Die scharf einseitige Darstellung etwa des UNESCO Welterbes als "Todesurteil" für die positive Entwicklung einer Stadt ist so möglicherweise zu hart formuliert, aber liefert dennoch einen wichtigen Denkanstoß in einer viel diskutierten öffentlichen Debatte. Es ist für Experten als auch Einsteiger sehr verständlich formuliert.

Schließlich bleibt D’Eramo am Ende in seiner These, dass das Zeitalter des Tourismus dem Untergang geweiht ist, sehr vage und nennt kaum schlüssige Gründe. Vieles spricht jedoch - trotz der offensichtlichen Probleme - für eine Weiterentwicklung in neue Dimensionen (wie z.B. gar in den Weltraum). Das Buch lässt hier zum Abschluss einige Fragen und die Perspektiven in die Zukunft offen, dient aber als wichtiger Gedankenanstoß für weitere Diskussionen.

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