15.05.2019

Themenreihe Ländlicher Raum

Buchdetails

Kreative Pioniere in ländlichen Räumen: Innovation & Transformation zwischen Stadt & Land
von Katja Wolter, Daniel Schiller, Corinna Hesse (Hg.)
Verlag: Steinbeis-Edition
Seiten: 562
 

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Autor*in

Dieter Haselbach
ist habilitierter Soziologe und arbeitet seit über 20 Jahren als Kulturberater und -forscher. Er unterrichtet regelmäßig an deutschen und internationalen Hochschulen. Seit 2014 ist er Direktor des Zentrums für Kulturforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von Planungsprozessen und Strategien für Institutionen, Change Management in der öffentlichen Verwaltung sowie Führungs- und Konfliktcoaching. 
Buchrezension

Kreative Pioniere in ländlichen Räumen. Innovation & Transformation zwischen Stadt & Land

Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung haben in den letzten Jahrzehnten Impulse aus der Entdeckung der "kreativen Klasse" durch den US-Ökonomen Richard Florida erhalten. Der Band "Kreative Pioniere in ländlichen Räumen" unternimmt eine der bisher seltenen Übertragungen der Ansätze auf den ländlichen Raum.

Themenreihe Ländlicher Raum

 
Die Diskussion um Kreativität als Wirtschaftsfaktor hat sich bisher vor allem auf Metropolen und große Städte bezogen. Der hier vorliegende Band, von Katja Wolter, Daniel Schiller und Corinna Hesse herausgegeben und 2018 bei Steinbeis-Edition erschienen, möchte ausloten, ob und wie das Konzept auf die Entwicklung im ländlichen Raum fruchtbar gemacht werden kann. Die Autoren der 17 selbständigen Abhandlungen schreiben aus unterschiedlichen fachlichen Kontexten, viele sind ersichtlich akademische Qualifikationsarbeiten. Das Buch ist in vier Teilen organisiert, wobei der erste und der zweite Teil denselben Titel ("Entwicklungspotenziale und Standortfaktoren der Kreativ- und Kulturwirtschaft") tragen. Wodurch diese sich unterscheiden wird jedoch beim Lesen nicht ersichtlich. Die beiden anderen Teile behandeln "Kreativitäts-Regionen" und "Kreativitäts-Initiativen". 
 
Von großen Ideen und den Mühen des flachen Landes
 
Richard Floridas Werk "The Rise of the Creative Class" (2002) wollte erstmals aufzeigen , dass wirtschaftliches Wachstum durch die "kreative Klasse" verursacht oder beschleunigt werden kann.  Er regte damit eine umfangreiche fachliche, politische und gesellschaftliche Diskussion an, die ihm im Fokus auf den urbanen Raum folgt. 
 
Der Sammelband setzt sich dabei von Florida sowohl in Bezug auf den Lebenswelt-Fokus als auch auf die Definition der Kultur- und Kreativwirtschaft ab. Letztere wird schlicht als Summe von Branchen konstruiert (Engstler / Mörgenthaler nennen sie ausdrücklich ein "politisches Konstrukt" (S. 377)), in deren Arbeitswelt es einen besonders hohen Anteil von Kreativität gäbe. Dabei ist der zentrale Terminus "Kreativität" im Buch seltsam unterbestimmt. 
 
In Deutschland gilt die "Kultur- und Kreativwirtschaft" als Verursacherin wirtschaftlichen Wachstums und ist ein Kristallisationspunkt von Wirtschaftsförderungspolitik, Dies ist der Grund für die "Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft" der deutschen Bundesregierung. Zahlreiche statistischen Untersuchungen meinen, dieses Potential als Wachstumstreiber zu zeigen, allerdings bleibt unklar, ob die Kultur- und Kreativwirtschaft tatsächlich Wachstumsgrund oder ob sie vielmehr lediglich Wachstumsfolge ist. Und auch hier gibt es mit wenigen Ausnahmen einen Fokus auf urbane Umgebungen.
 
Einer der Gründe: Jene "Kreativen" sind auf dem Land selten: "Insgesamt finden sich im ländlichen Raum keine Schwerpunkte der Kultur- und Kreativwirtschaft" (S. 14), heißt es im Beitrag von Müller / Mossig. Vossen / Alfken / Sternberg unterstreichen zudem, "dass auch in Deutschland die ‚Kreative Klasse‘ tatsächlich ein eher urbanes Phänomen ist" (S. 56). Aber doch gibt es Künstler und Kunsthandwerker, die ihren Lebensmittelpunkt abseits der Metropolen gefunden haben. 
 
Die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns (SPD) - dieses ‚ländlichste‘ Bundesland ist in vielen der Beiträge Thema - steuert ein Grußwort bei und betont, dass auch sie auf "die kreativen Pioniere" setzt. Thomas Sattelberger, MdB der FDP mit einem beruflichen Hintergrund im Top-Management eines DAX-Konzerns, gewährt ein einleitendes Interview zu Kreativität und "Kreativitätslosigkeit in Unternehmen" und singt dabei ein Loblied der "Disruption", da diese in der Fachdiskussion als die Folge unternehmerischer Kreativität gewertet wird.
 
Probleme der verwandten Grundbegriffe
 
Mit wenigen Ausnahmen unterziehen die Autorinnen und Autoren ihre Grundbegriffe keiner kritischen Überprüfung. So gilt es in den meisten Beiträgen als gegeben, dass die "kreative Klasse" oder die "Kultur- und Kreativwirtschaft" (in nicht wenigen Beiträgen werden die Konzepte als praktisch identisch behandelt) deswegen so wichtig sei, weil sie Wachstum oder zumindest positive Änderungen bewirke. Woraus der Schluss schon feststeht, dass die Politik der Regionalentwicklung nicht falsch liege, wenn sie die Ansiedlung von Künstler/innen, Kreativen und kreativen Unternehmern oder die Vernetzung dieser mit anderen Unternehmen fördert. 
 
Auch der hinter den Konzepten jeweils stehende Begriff von "Kreativität" wird nur in wenigen Beiträgen kritisch hinterfragt. Dabei wird unterstellt, dass das, was unter "kreative Klasse" respektive "Kultur- und Kreativwirtschaft" verstanden wird, mit den kreativen Menschen einer Gesellschaft praktisch identisch sei und dass sich - eine weitere Verengung der Begriffe - dies besonders und vorzüglich in Künstlerinnen und Künstlern manifestiere. Nur ist weder jeder Akademiker gleich ein "Kreativer" noch ist jede/r Mitarbeiter/in in einem Betrieb, der der "Kultur- und Kreativwirtschaft" zugerechnet wird, kreativ. Kreativ ist vielmehr das Handeln von Personen. Kreativität lässt sich nicht auf Berufsgruppen oder Wirtschaftsbranchen eingrenzen. Hinz formuliert in ihrem Loblied der Kreativität zutreffend, wenn auch sprachlich ein wenig holprig: "Kreativität wurzelt im Schöpferischen …: etwas Neues, Originelles, noch nie da Gewesenes." (S. 117). 
 
Die Einengung der meisten Beiträge auf die Suche nach den "Kreativen", vulgo Künstler/innen, auf dem Land gerät so zu einem Vorurteil, zu einem Glaubenssatz und die Erkenntnisse sind Bekenntnisse, Bestätigung des Glaubens. So heißt es beispielsweise bei Reissmann und Schiller: "Künstler leisten auf vielfältige Weise einen Beitrag zur Regionalentwicklung ländlicher Räume, indem sie an der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und räumlichen Entwicklung mitwirken" (S. 327). Oder bei Bülow und Liebmann: "Die meisten Künstler bereichern das Leben im Dorf, indem sie sich sozial, politisch oder künstlerisch engagieren" (S. 361). Ersetzt man in diesen Sätzen das Wort oder den Wortbestandteil "Künstler" durch "Klempner" oder "Bäcker", bleiben sie immer noch richtig. Und es führt nicht tiefer, wenn die Handlungsempfehlungen des letztzitierten Beitrags herausstellen, dass "Künstler besonders auf die Verkehrsinfrastruktur angewiesen [sind], aber auch auf Schulen oder ein funktionierendes Gesundheitswesen" (S. 363). Für wen auf dem Land gilt das nicht? Was ist der Erkenntnisgewinn?
 
Lesenswerte Fallstudien und Empfehlungen
 
Interesse verdienen jedoch die sorgfältig ausgearbeiteten Fallstudien. Hervorgehoben sei die von Müller / Mayer zu Initiativen und Innovatoren am Beispiel der Mecklenburgischen Seenplatte, in der der Blick nicht auf ein geglaubtes Muster von Innovation, sondern auf tatsächliche Akteure gerichtet ist. Die abwägenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen dieses Artikels zeigen, wie eine Förderung von Zivilgesellschaft aussehen kann. Rost versucht sich an einer Übertragung des Konzepts "Zwischennutzung" auf Kleinstädte und benennt dabei vielfache große Widerstände. Mittenzwei berichtet zudem über ein Kreativquartier in Rostock. Darüber hinaus untersuchen Lange und Olejko Vernetzungsinitiativen, verweisen auf die Bedeutung von Vernetzung. Gollner / Sommerer berichten aus Akteursperspektive über eine Künstlerkolonie, was zeigt, welche Mühen die Arbeit vor Ort im ländlichen Raum tatsächlich mit sich bringt.
 
Fazit
 
Das Buch wird sicherlich eine feste Referenz werden für weitere Untersuchungen sowie für Abschlussarbeiten etwa in Studiengängen der Geographie oder des Kulturmanagements (manche der Untersuchungen sind genau aus diesem Kontext entstanden). Wirtschaftsförderer und Kulturpolitiker in ländlichen Regionen Deutschlands mögen vor allem aus den Fallstudien Anregung beziehen. Die fachliche Diskussion allerdings wird durch den Sammelband kaum weitergebracht. Das hätte erreicht werden können, wenn nicht so sehr versucht worden wäre, einen Glaubenssatz mit Empirie zu unterfüttern, sondern in empirischer Arbeit geglaubte Wahrheiten auf die Probe zu stellen.
 
Darüber hinaus fehlt dem Sammelband leider die redaktionelle Sorgfalt, mit der es um 100 oder 200 Seiten kürzer hätte sein können. So stellt sich eine leise Müdigkeit ein, wenn man zum zehnten Mal liest, welche Folgen der demografische Wandel in ländlichen Gebieten hat oder zum siebenten, warum es trotzdem schön sein kann, auf dem Land zu leben. Ebenso muss kritisiert werden, dass sich in manchen Beiträgen der Aufwand der Empirie und deren Nutzen der Ergebnisse nicht decken. So wird in aller Ausführlichkeit das große empirische Untersuchungsbesteck ausgepackt, das dann an einem Sample von n < 50 angewandt wird, um daraus weitreichende Ableitungen zu begründen, die schließlich nur in die überraschungsarme Empfehlungen münden, die "Kreativen" bei der räumlichen und wirtschaftlichen Entwicklung nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Redaktion hätte vielleicht auch einige Fehler erspart, so die Erfindung der "Peking-Order-Theorie" (S. 227), mit der wahrscheinlich die Hackordnung ("pecking order") gemeint ist. Es finden sich aber auch grobe Zahlenschnitzer ("der Künstleranteil [liegt] deutschlandweit bei ca. 24 Künstlern je 1.000 Einwohnern" (S. 304) - richtig ist ein Zehntel davon) oder auch satirische Sozialwissenschaft, wie die Erkenntnis "Der direkte Zuzug erfolgt durch den eigenen Wohnortwechsel." (wie sonst?) oder auch die Formel "Wanderungssaldo definiertes Gebiet = Zuzug - Fortzug" (beide: S. 347). 
 
Im ländlichen Bereich ist aus der Diskussion um "Kreativwirtschaft" und "kreative Klasse" eben vieles nicht übertragbar. Der genius loci liefert noch die besten Hinweise, was vor Ort tatsächlich möglich ist. Auf dem Lande leben sehr unterschiedliche Geister. Förderung "der Kreativen" ist keine Wunderformel. Dennoch wurde der ländliche Raum noch selten systematisch daraufhin untersucht, ob und wie auch hier wirtschaftliche Impulse von der "kreativen Klasse" oder der "Kultur- und Kreativwirtschaft" ausgehen. Insofern könnte eine Veröffentlichung, die das Thema sauber aufarbeitet, eine thematische Lücke füllen.

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