14.10.2021

Buchdetails

World Wide Wunderkammer: Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution
von Holger Noltze
Verlag: Edition Krber
Seiten: 256
 

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Autor*in

Aileen J. Becker
promoviert am Max-Weber Kolleg in Erfurt über christliche Gemeinschaftsbildung. Zuvor leitete sie das Projekt "Provenienzforschung" für die Städtischen Sammlungen der Universitätsstadt Tübingen und absolvierte ein Volontariat im Bereich Sammlungsmanagement und Ausstellungen bei der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz in Kooperation mit dem Historischen Museum der Pfalz Speyer. Sie studierte Archäologie, Geschichte und Altphilologie in Konstanz und Freiburg und ist im Kulturmanagement und der Provenienzforschung zertifiziert.
Buchrezension

World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution

Die Zahl und Bandbreite an digitalen Kulturangeboten zu überschauen, einzuordnen und daraus Rückschlüsse zu ziehen, ist eine schwierige Aufgabe. Ihr nimmt sich Holger Noltze an und kritisiert in drei Akten digitale Bemühungen der Gegenwart, erörtert die Formate von Institutionen auf dem Weg ins weltweit vernetzte Zeitalter und entwirft nostalgische Zukunftsvisionen.
 
Es lohnt sich, gleich mit dem Titel zu beginnen. Hier greift der Autor elegant den bekannten alliterierenden Klimaxdreier asyndetischer Einsilber "world wide web" auf und ersetzt das "web", welches gern auch als alleinstehende Abkürzung für Internet verwendet wird, durch das fabelhaft antiquiert wirkende Wort der "Wunderkammer". Das Internet wird hier getauscht mit einem begrenzten Raum, der nicht weniger als unerklärliche Ereignisse enthält. Das klingt vielversprechend genug, um sich in dieses Wunderbuch zu begeben und in die Kammer zu leuchten. 
 
Mit 250 Seiten samt Anmerkungen ist "World Wide Wunderkammer" von Holger Noltze, erschienen 2020 in der Edition Körber, ein überschaubarer Einblick in das kulturelle Internetangebot. Die Dreigliederung des Titels entspricht auch der Gliederung des Inhaltes in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft digitaler Kulturangebote. 
 
Das Buch schließt an seinen Vorgänger ‚Die Leichtigkeitslüge - Über Musik, Medien und Komplexität‘ von 2010 an, in dem Noltze - der als Musikjournalist und Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund tätig ist - die Vermittlungspraktiken im Bereich klassischer Musik kritisiert. Der marktorientierte Zuschnitt traditioneller Werke für deren "Verkauf" an ein modernes Publikum banalisiere demnach die Komplexität und Ästhetik des Genres. Dieses neue Buch nun, so Noltze, sei als Fortsetzung mit dem Fokus auf die Digitalisierung zu lesen. Eingangs möchte der Autor mit drei "Missverständnissen" aufräumen, womit er sich der Kritik an seinem ersten Band zu erwehren versucht - ein schwieriger Einstieg, der voraussetzt, dass man das erste Buch gelesen hat. Die Kritik nun warf ihm damals vor, bestehende Ansätze zu demontieren, aber keine eigenen Ideen zur Verbesserung zu entwickeln. Jedoch sieht sich Noltze allerdings nicht genötigt, bessere Vorschläge zu machen. Nein, Kritik sei sein Angebot, wer mehr erwarte, werde enttäuscht. In diesem Sinne:
 
Enttäuschungen und weitere Angebote im digitalen Kulturbereich
 
Im ersten Kapitel führt Noltze seine Leser*innen durch diverse digitale Lebensräume und weist auf das wachsende Kulturangebot sowie dessen Vorteile und Nachteile hin. Hier findet sich ein Überblick dazu, wie Kultur in ihren verschiedenen Formen und Sparten heute digital erlebbar ist und wer diese Angebote bereitstellt.
 
Noltze beginnt dabei mit schulpflichtigen Kindern, deren digitale Ausbildung durch nicht eingehaltene politische Versprechen sich selbst überlassen wird. Die Kinder, die der Autor hier im Sinn hat, sind scheinbar vornehmlich männlich und an Gewaltspielen interessiert. Ihr Highlight ist die Gamescom in Köln als "Gamer-Himmel", die weltweit größte Messe für Computer- und Videospiele, deren Angebote für Jugendliche mit zunehmendem Alter immer gewaltsamer werden. Jugendschutz wird hier nicht das erste Mal als unliebsame Grenze erlebt. Dennoch ist der Bereich Games ein wichtiger Bezugspunkt für klassische, digitale Kulturangebote, wie Noltze deutlich macht: "Games haben einen deutlich höheren technischen Standard, vor allem aber Impact als viele gut gemeinte Anstrengungen digitaler Kulturvermittlung" (S. 52). Der kommerzielle Sektor hat die finanziellen Mittel und wirtschaftlichen Anreize, an den Konsument*innen orientierte Angebote zu liefern, die zum Kauf animieren. Der öffentlich geförderte Kultursektor hingegen ist bekanntlich nicht von Kauf- oder Klickzahlen abhängig. 
 
Hier kommt nun der einzige Exkurs in die Urwelt der Wunderkammern, das Museum. Noltze wählt ein bekanntes Kunstmuseum als Beispiel, das Frankfurter Städel. Besseres gäbe es nicht in Deutschland in puncto digitale Angebote. Da bestünde definitiv Luft nach oben. Das lege auch die kostenlose, im Kunstsektor verortete Daily-Art-App des Unternehmens Moiseum nahe. Sie verspricht ein hervorragendes Bildungs- und Kulturprogramm und wirbt mit 1 Mio. Nutzer*innen, ist aber mit weniger als 4000 Objekten ein ausbaufähiges Angebot, in welchem die dominante Werbung stört, die es finanziert. Solche Störer wiegen bei ästhetischen Erlebnissen besonders schwer, das liegt in der Natur der Sache. Ein weiteres Angebot, Google Arts and Culture, ist Noltze zufolge zwar ein ambitioniertes Projekt, bietet aber wenig Überraschendes und wundert nicht, sondern überfordert vielmehr, sei also von einer Wunderkammer weit entfernt. 
 
Nicht nur qualitativ interessanter und komplexer, sondern auch quantitativ umfangreicher wird es bei Herrn Noltzes Leib- und Magenthema, der Musik. Die Streamingpalette hat sich seit Napster stetig diversifiziert und verbessert. Zudem erklären heute Videos Opern in wenigen Minuten, Komponieren im Netz funktioniert als Online-Spiel mit anderen und im virtuellen Konzerthaus erhält man mit seiner Handykamera ein Miniaturquartett nach Hause. Die Möglichkeiten sind schier endlos, und werden doch ähnlich umgesetzt wie das analoge Kulturerlebnis; nicht ohne Grund schreibt Noltze vom "Podcast-Universum", in dem "punktgenaues, planbares Radio" (S. 100) zelebriert werde.
Große Sprünge und ökonomischer Wert
 
Im folgenden Teil erläutert Noltze die digitalen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte im Kulturbereich und wie sich ständig alles leise wandelt: "Wir spüren die Veränderungen und erkennen, dass nicht jede Errungenschaft auf Dauer gestellt sein muss." (S. 137) Vieles bewährt sich nicht, wird rasch überholt und spielt nur eine kleine Rolle in der Digitalen Evolution. "Die Frage vom Sein oder Nichtsein wird eher in der Ökonomie entschieden" (S. 139) denn im nicht-kommerziellen Bereich. Von öffentlichen Kultureinrichtungen bereitgestellte Angebote spielen demnach im digitalen Kosmos eine deutlich kleinere, unbedeutendere Rolle als jene großer Unternehmen, die wirtschaftliche Interessen verfolgen. 

Ein Beispiel hierfür ist Spotify, mit 250 Mio. Nutzern der größte Musikstreamingdienst weltweit und kostet fast nichts. Die Plattform bietet über die immense Auswahl an Musiktiteln hinaus einen Algorithmus, der den Geschmack der Nutzer*innen über mehrere Parameter ermittelt, die von Internetscans bis hin zu emotionalen Tönen in Tracklists reichen. Ob diese Durchleuchtung zu genießen oder zu fürchten sei, wird von Noltze nicht weiter bedacht. Vielmehr macht er einen anderen wichtigen Aspekt erneut und wiederholt stark, nämlich die Frage nach dem Wert der zum "Fast-Null-Tarif" (S. 142) angebotenen Kunst der Musik, die er - wie viele andere Fragen - nicht beantwortet, sondern zur Reflektion an die Leser*innen richtet. Die immer bessere Technik habe es zunehmend ermöglicht, vervielfachbare Abbilder von Musik, aber auch anderer Kunstformen zu schaffen, die qualitativ hochwertig und preisgünstig sind.   
 
Wundern statt überfordern lassen
 
Im letzten Kapitel wagt Noltze einen Blick in die nicht allzu ferne Zukunft der Kulturbranche und darüber hinaus. Dabei wirft er die Frage auf, ob Digitalität mehr Übel oder Segen sei, und entwirft das Bild einer Büchse der Pandora, in der das Digitale als Übel bis zum Jahr 1990 ausgeharrt habe, nur um dann mit voller Wucht aus- und über die Menschheit hereinzubrechen. Dabei sei es vor allem die Allgegenwärtigkeit, die das Digitale vom Guten ins Böse umwandle. "Wo uns alles zu viel wird, wird das Weniger wichtiger", konstatiert Noltze im Hinblick auf die Selektion des interneterprobten Homo Sapiens bezüglich seiner Aktivitäten im Netz. 
 
Ein leitendes Schlagwort, das im Museumsbereich zunächst für Irritationen sorgte, ist dabei das mittlerweile gängige Wort der Kuration. Ein*e Kurator*in ist ausgestattet "mit der besonderen Fähigkeit zu emotionaler und intellektueller Stimulation", da er oder sie die Tätigkeiten im digitalen Raum sorgfältig auswähle und ordne. Jeder kuratiere mittlerweile seine ins Netz gestellten und dort konsumierten Inhalte nach persönlichen Präferenzen und Kenntnissen. Kurator*innen kümmern sich dabei um die Objekte, seien es Bilder und Texte, Audio- oder Videodateien, und setzen sie in einen selbst gewählten Zusammenhang auf einer gewünschten Plattform. Den Rahmen bildet eine Geschichte, die Objekte und Kurator*innen inszenatorisch verbindet oder entkoppelt. So oder so: "Der Kurator als Storyteller erzählt nicht nur die Geschichte der Dinge, sondern auch seine eigene." 
 
Emotionalisierung und Authentizität der Geschichten sind dabei aus der Werbung entnommene Methoden zur Generierung von Klicks und der Steigerung von Aufmerksamkeit, diese bilde eine "ökonomische Schlüsselgröße". Es gehe immer noch besser, noch emotionaler und marktorientierter, im Zweifel zugunsten der eigenen Identität. Trotz dieser Kritik lehnt Noltze eine Versteigerung in Negativspiralen, wie manche Forscher*innen sie aufgrund von Instagram & Co. prophezeien, jedoch ab. Dem Überschuss an Informationen könne man kaum entkommen. Noltze rät den Nutzer*innen, der Informationsflut mit Offenheit und Leichtigkeit zu begegnen, anstatt zu Flucht und Abstumpfung angesichts des mit Werbung und Mainstream überfrachteten Kulturangebots. "Totalimmersion also als verhinderte Reflexion: nur staunen, nix verstehen" (S. 224). Den Kulturanbieter*innen hingegen wird bewusst, wie sehr ihre Angebote kommerziell eingeengt werden, sodass die Qualität der Darstellung enttäuscht.

Empfehlung
 
Das Buch liest sich wie eine Aneinanderreihung vieler lesenswerter Artikel in der Kultursparte einer Zeitung, wie sie von Herrn Nolzte regelmäßig erschienen. Die Kumulation vieler kluger Gedanken ist aber leider nicht so spannend, wie ich es mir erhofft hatte, denn das Buch hat keine zentrale These. Noltzes Feststellung, dass das Potenzial digitaler Kulturangebote noch nicht ausgeschöpft sei, trifft dennoch zu. Und von seinen vielen Beispielen kann man sich durchaus inspirieren oder abschrecken lassen. Zudem haben seine Beobachtungen die Tendenz, eigene Eindrücke derselben bekannten Beispiele noch einmal zu schärfen und digitale Aktivitäten spartenübergreifend zu reflektieren. 
 
Es ist der subjektive Gesamtüberblick, der das digitale Kulturangebot so gut abzubilden scheint und der das Buch zu einem guten Freund macht, der einem seine Eindrücke und Wünsche enttäuscht und hoffnungsvoll vermittelt. Das ist durchaus anregend und ernst zu nehmen, denn Noltze kennt sich aus. Der nüchterne Kommentar bleibt im Hinterkopf und hilft vielleicht dabei, ein digitales Kulturangebot zu entwickeln, das nicht Mainstream sein will, sondern Überraschungen liefert. Insgesamt also ein klug geschriebener Parforceritt durch die deutsche Kulturlandschaft, exerziert am größten Tummelplatz der Welt, dem Internet.

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