17.07.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Yvonne Pröbstle
ist Gründerin und Geschäftsführerin der Agentur Kulturgold GmbH in Stuttgart. Zu ihren Kernthemen zählen Kulturtourismus, Besucherforschung und Evaluation sowie Kulturentwicklungsplanung. Die Kulturmanagerin ist darüber hinaus regelmäßig als Dozentin und Moderatorin tätig. Sie verantwortete unter anderem die Kulturtourismusstudie im Namen des Instituts für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. 
Corona als Trendbeschleuniger im Kulturtourismus

Das „Exotische” liegt so nah

Die Folgen von Corona wirken als Beschleuniger für den Trend zur "Landlust" bzw. zum Inlandstourismus unter Tourist*innen, den wir bereits vor Beginn der Pandemie erkennen konnten. Welche strategischen Weichen sollten im Kulturmanagement gestellt werden, um dieses Potenzial umfassend zu nutzen?

Themenreihe Corona

Restart-Kampagnen schießen aktuell im Destinationsmarketing wie Pilze aus dem Boden. Immer im Fokus: der Inlandsgast. Landauf, landab wird der Urlaub vor der eigenen Haustür beworben. Umgekehrt wird der Incoming-Tourismus aus dem Ausland so schnell nicht wieder an Höhe gewinnen, wie wir es zuletzt gewohnt waren, auch wenn Beschränkungen weiter gelockert bzw. aufgehoben werden.
 
Diese Konzentration auf den Inlandstourismus kommt wenig überraschend. Die Reisebranche reagiert auf die Bedürfnisse der Nachfrage. Der Reisepuls Deutschland 2020 - eine Bevölkerungsbefragung, die im Mai 2020 erstmals von der Branchenplattform destinet.de durchgeführt wurde - hinterlegt den Inlandstrend mit Zahlen: 50 Prozent der Befragten erwägen eine Reise innerhalb der Bundesgrenzen. Der Großteil hat zudem noch keine konkreten Reisepläne gemacht und Buchungen vorgenommen. Das heißt, spätestens jetzt ist der Moment für die Destinationen gekommen, den potenziellen Gast zu inspirieren und zu überzeugen. 
 
Wer dagegen nicht verreisen möchte bzw. kann, für den stellen Tagesausflüge in die nähere Region möglicherweise eine Alternative dar, wie es eine Untersuchung der Agentur pilot nahelegt. 
 
Kein überraschender Trend 
 
Wer im Inlandstourismus einen kurzen Trend sieht, der verkennt die Zeichen, die es bereits vor der Pandemie gab. Auf die Frage, wo es in der heutigen Zeit überhaupt noch etwas Exotisches zu entdecke gebe, antwortete der italienische Journalist und Autor Marco d’Eramo im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung: "Das Exotische ist meiner Meinung nach das Nahe."  Wir sind es gewohnt, für Ausbildung und Beruf regelmäßig zu reisen und dazwischen belohnen wir uns mit Kurztrips oder längeren Auslands- und Fernreisen. Reisen sind zum festen Bestandteil unseres Lebensstils geworden. Und doch wächst eine Sehnsucht nach vermeintlich wahren Entdeckungen und authentischen Begegnungen. Dieses Phänomen ist nicht neu, aber es war noch nie so augenscheinlich wie im Zeitalter des Massentourismus. 
 
Aber wohin reisen, wenn die Welt bereits entdeckt scheint? Schon vor einigen Jahren ließen Trendforscher*innen daran keinen Zweifel und prognostizierten vor allem Destinationen auf dem Land eine rosige Zukunft (Richards, Russo 2014). Die Konsequenz: "ländliche Räume werden neu entdeckt, neu belebt, neu kultiviert." (Kirig 2013) 
 
Chancen für den Kulturbetrieb, wenn man sie nutzt 
 
Dass die Zeichen für Kulturangebote in ländlichen Destinationen günstig stehen und es Kulturtourist*innen verstärkt auch in mittelgroßen und kleineren Städten sowie auf dem Land gibt, ist ebenfalls belegt. Jede zweite Kultureinrichtung, darunter überdurchschnittlich häufig solche in ländlichen und naturnahen Reisegebieten, konnte in den letzten fünf Jahren eine wachsende Zahl touristischer Besucher*innen verzeichnen, so ein zentrales Ergebnis der Kulturtourismusstudie 2018. Als Gründe für diese Entwicklung nannten die Verantwortlichen häufig die Schaffung neuer, attraktiver Angebote und/oder die Professionalisierung der Marketingarbeit.  
 
Nach Erkenntnissen der Kulturtourismusstudie schätzen 50 Prozent der befragten Kultureinrichtungen ihr Angebot für so attraktiv ein, dass es einen Reiseanlass darstellt, d. h. Besucher*innen eigens für das betreffende Kulturangebot die Reise unternehmen, also auch Geld und Zeit dafür aufwenden. In Großstädten steigt der Wert auf 59 Prozent, in ländlichen Destination liegt er dagegen mit 46 Prozent unter dem Durchschnitt. 
 
Dabei ist ein Großteil der Kultureinrichtungen, besonders im ländlichen Raum, auf die Kooperation mit anderen Kultureinrichtungen und touristischen Leistungsträger*innen angewiesen, um im Verbund an Attraktivität zu gewinnen und einen Reiseanlass zu generieren bzw. positiv auf die Aufenthaltsdauer Einfluss zu nehmen. Was es dafür braucht, ist die Bereitschaft, das Angebot mit den Augen von Tourist*innen zu beurteilen und den kooperativen Schulterschluss zu suchen, um die Aufmerksamkeit auf die eigene Einrichtung zu lenken. 
 
An der Profilbildung arbeiten 
 
Destinationen können sich nicht mehr damit begnügen "schön" zu sein, denn die Tourismuswerbung lässt den potenziellen Gast glauben, dass es überall auf der Welt schön ist. Für ländliche Destinationen gilt es deshalb, die Eigenheiten und Besonderheiten eines Ortes zu erzählen, vor allem in einer Zeit, in der "going local" unter reiseerfahrenen Kulturtouristen immer mehr zum "must-see" wird (Pröbstle 2017). 
 
Unter den Kultur- und Tourismusakteur*innen herrscht Einigkeit darüber, dass die größte Herausforderung für die Zukunft in der Verständigung auf ein gemeinsames Profil liegt. Die gegenwärtige Praxis sieht jedoch häufig noch anders aus. Viele Destinationen und Kultureinrichtungen werben nach wie vor mit einem "besonders vielfältigen Kulturangebot". Gerade im ländlichen Raum, wo Kultur- und Tourismusakteur*innen in der Regel mit begrenzten Ressourcen arbeiten müssen, sollten solche Parallelstrukturen aber kritisch hinterfragt werden, denn Vielfalt begründet also kein Alleinstellungsmerkmal bzw. einen Reiseanlass. 
 
Warum aber fällt die Profilbildung bzw. -schärfung den Kultur- und Tourismusakteur*innen so schwer? Weil ein solcher Prozess bedeutet, gezielt Schwerpunkte zu setzen und ausgewählte Angebote hervorzuheben bzw. thematisch zu bündeln. Einzelne Anbieter*innen befürchten in dieser Situation nicht selten, abgehängt zu werden. Doch vielmehr das Gegenteil dürfte der Fall sein, wenn ein starkes Narrativ zu einer überzeugenden Profilentwicklung beiträgt und dadurch Reiseanlässe geschaffen werden. Ist der Gast erst einmal in der Destination angekommen, kann er oder sie dort durch weiterführende Strategien und Maßnahmen auf die Vielfalt der Angebote aufmerksam gemacht werden. Mut ist also gefordert, wenn in der Positionierung zunächst auf weniger gesetzt wird, um am Ende damit mehr zu erreichen (Föhl, Pröbstle 2018).
 
Aus Potenzialen Angebote machen - mithilfe digitaler Instrumente und Anwendungen 
 
Ob mobiler Ticketverkauf, digitale Vermittlungstools oder die Kontaktpflege mit Kultur- und Reiseblogger*innen - die Kulturtourismusstudie 2018 bestätigte sowohl für Kultur- als auch Tourismusakteur*innen digitalen Aufholbedarf. Offensichtlich haben sich Marketing und Vermittlung noch nicht ausreichend auf das Informations- und Kommunikationsverhalten der Digital Natives eingestellt. Sie verschenken damit eine große Chance. Denn der Tourismus lebt von konkreten Angeboten, nicht von Potenzialen. 
 
Es mag kaum einen Ort geben, der nicht hoch interessante, historisch relevante oder gar eine besonders eigentümliche oder kuriose Geschichte zu erzählten hätte. Allerdings sind sie oft für den Gast nicht sichtbar und in Form von konkreten Angeboten erlebbar. Hier kommen digitale Möglichkeiten (z. B. Apps, Podcast, AR- oder VR-Anwendungen) ins Spiel, denn sie erlauben es, Geschichten auch außerhalb von gebauten Räumen zu erzählen - was insbesondere für ländliche Destinationen interessant ist. Dabei besteht die Chance, von den Erfahrungen der letzten Wochen und Monate zu profitieren, während derer Kultureinrichtungen vielerorts im Eiltempo und mit großer Willensbereitschaft Digitalisierungsprojekte angestoßen haben. 
 
Kulturtourismus in der Praxis und Ausbildung von Kulturmanager*innen 
 
Es sind in der Regel die Marketingverantwortlichen von Kultureinrichtungen, die touristische Maßnahmen planen und umsetzen. Und das nicht selten neben dem Kerngeschäft. Tourismus wird somit zum Anhängsel eines Kulturmarketings, das auf lokale und regionale Zielgruppen konzentriert ist. Ursächlich dafür sind begrenzte Ressourcen, aber auch eine verkürzte Sicht auf das Potenzial des Tourismus in Kombination mit einer stark operativen und wenig strategischen Ausrichtung. 
 
Kulturtourist*innen gehen in der Wahrnehmung von Kultureinrichtungen zwar mit mehr, aber selten mit neuen Besucher*innen einher. Zu häufig wird deshalb verkannt, dass auf Reisen auch bei Nicht-Besucher*innen die Bereitschaft steigt, sich zumindest temporär mit Kunst und Kultur zu beschäftigen, wie einschlägige Untersuchungen belegen (Mandel 2017. Pröbstle 2014). 
 
Wer Tourismus als ein Instrument zur Förderung von Teilhabe nutzen möchte, muss neben Kommunikations- und Vertriebsmaßnahmen auch Vermittlungsangebote für Tourist*innen mitdenken. Das passiert auch deshalb selten, weil in der Aus- und Fortbildung von Kulturmanager*innen das Thema Kulturtourismus allenfalls unter Marketingaspekten zur Sprache kommt und hier meist nur angerissen wird. 
 
Es wäre wünschenswert, Berufsanfänger*innen und Praktiker*innen systematischer und umfassender für die Spezifika eines Kulturtourismusmarketings zu sensibilisieren. Dazu gehört auch die Besucher*innenforschung mit für die Zielgruppe Tourist*innen spezifischen Erkenntnisinteressen und Fragen. Es wäre zudem wünschenswert, den Blick für die strategischen Perspektiven des Kulturtourismus zu schärfen, etwa um Allianzen mit außerkulturbetrieblichen Akteur*innen zu schmieden und so der vielfach zitierten Marginalisierung von Kulturpolitik entgegenzuwirken. Und es wäre wünschenswert, der Frage mehr Raum einzuräumen, welche Kompetenzen Kulturmanager*innen benötigen, um erfolgreich an der Schnittstelle von Kultur und Tourismus operieren zu können, besonders in ländlichen Regionen, wo der Ruf nach Impulsgeber*innen, Kümmerer*innen und Netzwerker*innen im Bereich der Kulturarbeit und des Kulturtourismus häufig zu hören ist.
 
All diese Gedanken sind nicht gänzlich neu und nach wie vor essenziell, wenn es darum gehen soll, nicht nur kurzfristig von der Reisetätigkeit der Bevölkerung im eigenen Land zu profitieren, sondern mittel- bis langfristig das Handlungsfeld Kulturtourismus weiter zu entwickeln. Die Aufmerksamkeit, die dem Inlandstourismus derzeit zu Teil wird, erweist sich idealerweise als Vehikel, den Blick auf die skizzierten Belange zu schärfen bzw. Lösungen zu beschleunigen. 
 
Literatur
 
  • Föhl, Patrick S. / Yvonne Pröbstle (2018): Vielfalt als Einfalt? Vom Suchen und Ringen nach Narrativen im Feld der Kultur. In: Kultur Management Network Magazin "Kultur und Stiftungen", S. 34-45.
  • Hausmann, Andrea (Hrsg.) (2020): Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum. Chancen - Akteure - Strategien, Transcript.
  • Kirig, Anja (2013): Tourismusreport 2014, Zukunftsinstitut. 
  • Mandel, Birgit (2017): Touristische Besucher als Chance der Öffnung von Kultureinrichtungen für ein sozial diverses Publikum. In: Klein, Armin / Yvonne Pröbstle / Thomas Schmidt-Ott (Hrsg.): Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachstumsmarkt, Trancript, S. 39-58.
  • Pröbstle, Yvonne (2014): Kulturtouristen. Eine Typologie, Springer. 
  • Pröbstle, Yvonne (2016): Was kann und was braucht der Kulturtourismus? Fragen an und Antworten von Kulturakteuren. In: Kultur Management Network Magazin "Kulturtourismus", S. 6-13.
  • Pröbstle, Yvonne (2017): Kulturtouristen: Ein (Zukunfts-)Portrait. In: Klein, Armin / Yvonne Pröbstle / Thomas Schmidt-Ott (Hrsg.): Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachstumsmarkt, Transcript,  S. 99-117.
  • Richards, Greg; Russo, Antonio Paolo (2014): Alternative and creative tourism: Developments and prospects. In: dies. (Hrsg.): Alternative and Creative Tourism, Arnhem, S. 4-9.
 
Die ausführliche Version dieses Beitrags erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Blick zurück nach vorn"

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