02.02.2022

Themenreihe Besucherforschung

Autor*in

Vera Allmanritter
ist Politikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie leitet das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) Berlin und ist Honorarprofessorin für Kultur und Management an der Fachhochschule Potsdam. Zuvor war sie freiberuflich und als Mitarbeiterin an verschiedenen Hochschulen, Stiftungen und Kultureinrichtungen tätig. Sie ist Co-Sprecherin der Arbeitsgruppe "Methoden der empirischen (Kulturbesucher*innen-)Forschung". 
Helge Kaul
ist Professor für Marketingkommunikation und Kreativwirtschaft an der International School of Management (ISM) in Hamburg. Vor seinen Hochschultätigkeiten in Deutschland und der Schweiz arbeitete er zwölf Jahre als Online Marketing Manager in der Musikindustrie (u. a. Yamaha Corp.) sowie in der Markenberatung (MetaDesign AG). Helge Kaul ist Experte für die angewandte Besucher:innenforschung und hat ein dauerhaftes Beratungsmandat am Institut für Kulturelle Teilhabeforschung in Berlin.
Neues Instrument zur Erfassung der Motive von Kulturbesucher:innen

Ich bin, was ich besuche?

In der Marktforschung geht der Trend immer stärker in die Richtung, das Verhalten der Konsument:innen online zu beobachten - ohne mit diesen direkt in Kontakt zu treten. Auf diesem Wege analysieren Unternehmen wie Amazon und Google Interessen und Präferenzen der Menschen in nie gekannter Breite. Allerdings: Warum jemand ein bestimmtes Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt kauft oder nicht, lässt sich durch solche Beobachtungen kaum nachvollziehen. Was für das Kaufverhalten von Produkten gilt, lässt sich auch auf den Besuch von Kulturangeboten übertragen.

Themenreihe Besucherforschung

Werden vertiefende Informationen über latente Ziele und persönliche Motive für eine Kauf- und/oder Besuchsentscheidung gesucht, sind Befragungen das geeignetste Mittel. Diese regelmäßig durchzuführen, lohnt sich, denn für Entscheider:innen in Kultureinrichtungen ist es wichtig zu wissen, warum Menschen eine Einrichtung aufsuchen und was sie in ihrem Innersten von ihr erwarten. Mit diesem Wissen können Kultureinrichtungen das Besuchserlebnis verbessern und somit für neue und bestehende Besucher:innen attraktiver werden. Die moderne Motivationsforschung hat erkannt, dass der Grund, warum jemand eine Kultureinrichtung besucht, zuallererst mit der persönlichen Identität zu tun hat. Vor diesem Hintergrund bildet die Motivationstypologie von John H. Falk (Oregon State University, Oregon, USA) Besuchermotivationen situationsbezogen ab, also im Kontext der spezifischen Besuchssituation. 
 
Lange Zeit lag Falks Typologie in Reinform nur in englischer Sprache vor, und sein Instrument war im anglo-amerikanischen Kulturbereich allein auf Museen ausgelegt. In diesem Artikel werden Falks Besuchsmotivationstypen in einem neuen, deutschsprachigen Messinstrument vorgestellt, das die Autor:innen entwickelt haben. Im Anschluss wird anhand von aktuellen Befragungsdaten aus dem spartenübergreifenden Besucher:innen-Forschungssystem KulturMonitoring (KulMon) mit seiner großen Vergleichsdatenbasis aufgezeigt, wie sich die Publika im Museumsbereich auf diese Typen verteilen. Über KulMon-Befragungen werden soziodemografische Daten und Besuchsmuster nach Lebensstilen erhoben, aber mit dem Instrument nach John Falk auch die situativen Beweggründe für den Kulturbesuch, die mit der persönlichen Identität der Besucher:innen verbunden sind. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Erörterung zum praktischen Nutzen der Motivationstypen sowie mit einem Ausblick. 
 
Die Besuchsmotivationstypen von John Falk
 
Gemäß John Falk kreiert jeder Mensch in unterschiedlichen Lebenskonstellationen immer wieder neue, differierende und situationsbezogene Identitäten, sogenannte "small identities". Diese von den Besucher:innen selbst wahrgenommenen Wesenszüge sind sensibel gegenüber wechselnden sozialen oder physischen Kontexten und können sich jeder Aktion und Interaktion anpassen. Die "big identity" einer Person steht hingegen für stabilere Identitätskonstrukte. Diese beruhen beispielsweise auf der Zugehörigkeit zu Geschlecht, Alter oder anderen sozialen Gruppen. 
 
Die Motivation von Besucher:innen von Kultureinrichtungen bildet sich im Sinne einer "small identity" für jeden Besuch jeweils neu. Diese kann nach der persönlichen Agenda einer Person und ihren Bedürfnissen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort völlig unterschiedlich ausfallen. Auch die spezifischen Angebotsmerkmale einer Kultureinrichtung, die eine Person rund um und während des Besuchs wahrnehmen kann, nehmen Einfluss auf die "visitor identity". Basierend auf jahrelangen Besucher:innenbefragungen in Museen, Science Centers und Zoos identifizierte John Falk folgende fünf Typen, die unterschiedliche "identities" bzw. Besuchermotivationen reflektieren: 
 
  • Explorer: besucht Angebote getrieben von persönlicher Neugier und dem Bedürfnis, etwas Neues zu entdecken;
  • Facilitator: besucht Angebote aufgrund der speziellen Interessen von Begleitpersonen und will mit anderen eine gute Zeit verbringen;
  • Experience Seeker: besucht Angebote, um einen ganz besonderen Ort zu sehen und zu erleben;
  • Professional/Hobbyist: besucht Angebote mit spezifischen Zielen und hat bereits viel Vorwissen;
  • Recharger: besucht Angebote zum Stressabbau und sucht nach einer kontemplativen Erfahrung.
Laut Falk sucht jede:r Besucher:in ein Kulturangebot anfangs mit einer dominierenden Motivationsausprägung auf. Diese bezeichnet er als die Hauptmotivation für den Besuch. Es gibt jedoch auch Personen, die bei ihrem Besuch gleichzeitig über mehrere der aufgeführten Identitäten verfügen. Die Wesenszüge dieser Mischtypen bezeichnet Falk als Nebenmotivationen (Vgl. Falk/Dierking 2011, siehe auch Falk 2009; Falk/Dierking 2000, 2012).
 
2018 wurde Falks Typologie im deutschsprachigen Raum in das Besucher:innen-Forschungssystem KulMon (KulturMonitoring) integriert. Seitdem kamen die "visitor identities" in Berlin in knapp 5.000 Befragungen vor allem in Museen und Gedenkstätten zum Einsatz. In mehreren KulMon-Befragungen in Mecklenburg-Vorpommern mit rund 4.000 Befragten wurden die Motivationen auch in Theaterhäusern, Schlössern und klassischen Konzerten abgefragt. Die Zugehörigkeit zu Motivationstypen wurde dabei aus der Zustimmung zu 20 einzeln auswählbaren Motivindikatoren ermittelt, von denen jeweils vier einem der fünf Motivationstypen zugeordnet sind, wie etwa: "Ich bin zwar kein:e Expert:in, lerne aber immer gern dazu."
 
Die Hauptmotivation bei Besuchen von Berliner Museen 2019
 
Der KulMon-Datensatz von 2019 enthält ca. 4.000 Besucher:innenbefragungen aus sechs Berliner Museen mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten (Naturwissenschaft, Technik, Heimatkunde, Kunst), in denen Falks Typologie Anwendung fand. In den zusammengefassten Daten zeigt sich, dass als Hauptmotivationstyp der Explorer mit knapp 60 Prozent sehr stark vertreten ist. Etwa ein Fünftel der Besucher:innen weist den Hauptmotivationstyp Facilitator auf. Ungefähr ein Zehntel gehört zum Typ Professional/Hobbyist. Mit je ca. 5 Prozent kommen die Experience Seeker und Recharger hingegen bei diesen Museen im gewählten Zeitraum kaum vor. 
 
Nach der Art des Museums ergeben sich teils deutliche Unterschiede: Bei Kunstmuseen liegt der Anteil der Explorer besonders hoch (fast 80 Prozent). Bei Museen im Bereich Naturwissenschaft und Technik oder bei Freilichtmuseen liegt der Anteil der Facilitator höher (knapp 20 Prozent), vermutlich, weil diese in der Außendarstellung und bei ihren Angeboten besonders stark auf ein Familienpublikum abzielen. Die Typen Professional/Hobbyist und Recharger sind in den Häusern etwa gleich stark vertreten. Beim Experience Seeker schwanken die Werte über die Häuser verteilt stark, vermutlich spielt hier die überregionale, touristische Reichweite und Bekanntheit eine Rolle.
 
Die Kombinationen von Hauptmotivationen und Nebenmotivationen 
 
Die Hälfte der Befragten hat neben ihrer Hauptmotivation offensichtlich noch weitere relevante Besuchsmotive. Von gut einem Drittel wird eine ergänzende Nebenmotivation genannt (ca. 35 Prozent). Circa 10 Prozent geben aber auch zwei und ca. 5 Prozent sogar drei Nebenmotivationen an. Der Großteil der Befragten wählt Indikatoren, die einem anderen Motivationstypen als ihrer Hauptmotivation zuzuordnen sind. 
 
Bei Besucher:innen, die (mindestens) eine Nebenmotivation angegeben haben, ist der Explorer dominierend: Für 70 Prozent der Professional/Hobbyists, 60 Prozent der Experience Seeker sowie 60 Prozent der Facilitator ist der Explorer ein Nebenmotivationstyp. Neugier und das Bedürfnis, etwas Neues zu entdecken, sind damit allgemein die wichtigsten Gründe, die befragten Museen zu besuchen. Vergleichsweise häufig tritt auch der Facilitator als Nebenmotivationstyp auf, insbesondere beim Experience Seeker und Recharger (je ca. 40 Prozent). 
 
Praktische Anwendung und Ausblick
 
Die Identifikation von Besuchsmotivationstypen ist für Kultureinrichtungen in mehrerer Hinsicht nützlich. Beispielsweise können die Häuser für ausgewählte Motivationstypen sogenannte Personas (konkrete Stellvertreter einer Zielgruppe) entwickeln, die mit weiteren Erhebungsdaten angereichert werden. Sie können für diese Personas gezielt Kulturmarketing- oder Kulturvermittlungsmaßnahmen gestalten und den Erfolg in weiteren Besucher:innenbefragungen messen. Ein praktisches Beispiel, bei dem genau dies erfolgt ist, findet sich im von der Beauftragen für Kultur und Medien geförderten Projekt "museum4punkt0". Im Teilprojekt "(De-)Coding Culture. Kulturelle Kompetenz im Digitalen Raum" der Staatlichen Museen zu Berlin wurden unter anderem mit KulMon-Daten Personas zu Falks Motivationstypen für die Entwicklung und Erprobung digitaler Vermittlungsformate genutzt (Siehe hierzu bspw. Bauer 2018, für den Projektabschlussbericht inklusive Ansätzen zur Persona-Entwicklung siehe Fendius/Otte 2021).
 
Die Erforschung der Besuchsmotivation wird somit auch in Zukunft essenziell sein. Im speziellen Fall von KulMon wird über den Einsatz des exakt gleichen Erhebungsinstruments in allen teilnehmenden Häusern ein Wissensaustausch über Besuchsmotivationen in verschiedenen Einrichtungen und Sparten ermöglicht. Dies ist die Basis für gemeinsame Strategien der Besucher:innenentwicklung. Vor diesem Hintergrund wird bei KulMon diese Option zukünftig noch stärker forciert, wobei die Autor:innen aktuell an zwei Optimierungen des bestehenden Instruments arbeiten. Erstens werden zwei weitere, jüngst von John Falk entwickelte Motivationstypen in die Typologie aufgenommen, die beispielsweise im Publikum von Gedenkstätten und Erinnerungsorten eine wichtige Rolle spielen: 
 
  • Community Seeker, die in den Häusern Bezüge zu ihrer persönliche Geschichte suchen, und 
  • Respectful Pilgrims, die historische Orte besser kennenlernen und diesen Respekt erweisen möchten. 
Zweitens optimieren die beiden Autor:innen Falks Typologie derzeit für die Nutzung im Bühnenbereich. Dadurch werden spezifische Aussagen über das Theaterpublikum und bessere spartenübergreifende Vergleiche möglich sein.
 
Dieser Beitrag erschien zuerst in der 163. Ausgabe des Kultur Management Network Magazins: "Identität und Kulturarbeit". In den Beitrag flossen textlich überarbeitete und erweiterte Abschnitte eines bereits veröffentlichten Texts der Autorin ein, siehe Allmanritter 2019.
 
Literatur
 
  • Allmanritter, Vera (2019): Lebensstile, Besuchermotivationen und eine erfolgreiche kollektive Besucheransprache von Kultureinrichtungen. Ergebnisse des Audience Development Pilotprojektes zum Thema "Kulturelle Teilhabe im ländlichen Raum" der Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen (KNK): Berlin. https://www.allmanritter.de/files/vera-allmanritter/content/downloads/lgfg/190829_Abschlussbericht-AD-KNK-2017-2018.pdf abgerufen am 30.10.2021.
  • Bauer, Nadja (2018): BesucherInnen im Blick, Testen & Evaluieren. Audiences first, digital second. https://www.museum4punkt0.de/audiences-first-digital-second/ abgerufen am 30.10.2021.
  • Falk, John (2009). Identity and the museum visitor experience. Walnut Creek, California. 
  • Falk, John /Dierking, Lynn (2000): Learning from Museums: Visitor Experiences and the Making of Meaning. Walnut Creek, California. 
  • Falk, John /Dierking, Lynn (2012): Museum Experience Revisited. London, New York. 
  • Falk, John /Dierking, Lynn (2011):  The Museum Experience. London, New York.
  • Fendius, Katharina/Otte, Josefine (2021): Vor, während und nach dem Besuch. Visitor Journeys in den Staatlichen Museen zu Berlin. https://www.museum4punkt0.de/wp-content/uploads/2021/08/210818_Grundlagenstudie_interaktiv.pdf abgerufen am 30.10.2021.
  • Institut für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie (2019): Usability-toolkit.de: Usability  für Webprojekte » Methoden » Personas, http://www.wp.usability-toolkit.de/prototyp/personas.html abgerufen am 30.10.2021.
  • Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (2021): KulMon® - kontinuierliche Besucher:innenforschung für Kultur- und Freizeiteinrichtungen. https://www.iktf.berlin/kulmon/ abgerufen am 30.10.2021.
  • Kaul, Helge/Schedler, Roy (2017): Means-End-Evaluation am Beispiel des Technorama. Zeitschrift für Kulturmanagement, 3 (1), 155-165.
  • Nielsen, Lene (2013): Personas - User Focused Design. London.

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