13.07.2014

Autor*in

Leonie Krutzinna
studierte Skandinavistik und Literaturwissenschaft an der Georg August-Universität Göttingen.
Staatsschauspiel Dresden gibt die Bühne frei für Laien

Für jeden eine Chance

Die Kultur setzt auf Partizipation. Soweit nichts Neues. Spannend wird es, wenn Kultureinrichtungen ihre BesucherInnen nicht nur berücksichtigen, um sich ihr Bestreben ums Audience Development attestieren zu lassen, sondern das Publikum in die Kunst selbst eingreift. So zum Beispiel an der Bürgerbühne in Dresden. Über das Theater mit Laien zwischen Öffentlichkeitsstrategie, Bildungsauftrag und neuer performativer Ästhetik.
Verheiratete und solche, die es mal waren. Männer in der Midlife-Crisis. Menschen, in deren Leben Geld (k)eine Rolle spielt: Mit diesen Kategorien wirbt das Schauspiel Dresden um Mitstreiter. Seit 2009 gibt das Theater die Bühne frei für Laien und Amateure, für Bürger, für das Volk.

Ein alter Hut?

Ein Bestreben also, das den hermetischen Theaterraum öffnen soll. Neu ist diese Idee nicht. Bei den 68ern versteht sich die Forderung nach Partizipation, aus der Ablehnung des autoritären Regie- bzw. Intendantentheaters heraus, von selbst. Im Dokumentartheater setzt sich das Primat der Authentizität vor allem in der freien Szene fort. Rimini-Protokoll ist dafür ein prominentes Beispiel und auch Christoph Schlingensief oder Volker Lösch taten sich hier als Pioniere hervor. Genau genommen wurzelt die Bürgerbühne jedoch in der Aufklärung. Bei Gotthold Ephraim Lessing schaffte es 1755 mit Miss Sara Sampson nicht nur eine Bürgerliche erstmalig in den Dramenstoff. Lessing forderte auch in der Theorie nachzulesen in der Hamburgischen Dramaturgie eine empathischere Bindung zwischen Publikum und Bühne.

Die Lebenswirklichkeit der Menschen produktiv ins Theater einzubringen, ist also ein alter Hut. Neu hingegen sind die organisatorischen Rahmenbedingungen. In Dresden wurde die Bürgerbühne durch den Intendanten Wilfried Schulz zum ersten Mal in Deutschland zur eigenständigen Sparte ernannt. Sein Credo im Hinblick auf die Bürgerbühneninszenierungen lautet: Wie jede andere Inszenierung auch. Heißt: gleiche Ressourcen in puncto Technik, Requisiten, Maske, Kulissen, dramaturgische Betreuung und Öffentlichkeitsarbeit. Für David Benjamin Brückel, Dramaturg an der Bürgerbühne, bedeutet das: Das Theater mit nicht-professionellen Darstellern wird an diesem Haus sehr ernst genommen. Nicht als Konkurrenz zum übrigen Spielbetrieb, sondern als eine Erweiterung des Spektrums, was Theater sein kann.

Aus der Versenkung der Spielzeitpause

Dass Theater mit Laien ernst genommen wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Für die Belange der Bürger sind weitläufig die Club-Produktionen zuständig, die es an fast jedem öffentlich geförderten Theater gibt und geben muss, man denke an den Bildungsauftrag der Theater und die hehre Forderung einer Kultur für alle in den späten 70ern. Die Clubs sind meist ein theaterpädagogisches Angebot, wie Brückel erklärt: Während die Inszenierungen an der Bürgerbühne mit einem Auswahlverfahren verbunden sind, kann an den Clubs jeder teilnehmen, der gerne Theater spielen möchte. Die Clubs treffen sich einmal pro Woche und stellen die Ergebnisse ihrer Arbeit am Ende der Spielzeit in Form von Werkstattaufführungen vor. Diese sind vielleicht nicht ganz so ergebnisorientiert wie die Inszenierungen, sondern prozessorientierter.

Nicht selten verschwinden diese Werkstattinszenierungen in der Versenkung der sommerlichen Spielzeitpause, eben weil sie in den Staats- und Stadttheatern nicht mit demselben finanziellen und infrastrukturellen Etat ausgestattet werden wie die großen Produktionen. Laientheater bleibt dann vom Spielzeitrepertoire unberührt. Als Pädagogik, nicht als Kunst. Klar, auch ein Theater ist ein Betrieb, der sich Kosten-Nutzen-Analysen stellen und mit Auslastungszahlen jonglieren muss. Die junge Dramatik etwa, sofern sie es überhaupt in den Spielplan schafft, kann nur durch Klassiker querfinanziert werden. Und wer schaut sich Klassiker an? Dem Klischee nach eben jenes Überbleibsel einer gut betuchten konservativen Bürgerlichkeit. Dass sich an diesem Sachverhalt eine Legitimitätsdebatte entzündet hat, die berechtigterweise fragt, für wen die Theater eigentlich spielen, ist nur allzu verständlich eine Debatte übrigens, die zusehends von der Politik forciert wird. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen werden deshalb Teilhabeprojekte von der mitunter recht kulturfernen Lokalpolitik wohlwollend aufgenommen, sofern sie sich auch als Bildungsangebot oder Sozialleistung deklarieren lassen, sichtbar u.a. beim Freiburger Projekt Finkenschlag.

Gegen das abnehmende Publikumsinteresse

Mit den Bürgerbühnen-Inszenierungen zeigt Dresden nun, dass kulturelle Teilhabe zugleich Bildung, Soziales und Kunst sein kann. Die Krise der Theater, so sieht es beispielsweise der Theaterwissenschaftler und Blogger Ulf Schmidt, ist auf das abnehmende Publikumsinteresse zurückzuführen: Die Schwäche der gegenwärtigen Theater ist nicht in erster Linie ein ökonomisches Defizit. Es ist ein inhaltliches Defizit. Menschen werden beginnen, sich wieder zunehmend für Theater zu interessieren, wenn sie feststellen, dass Theater sich wieder für sie interessiert.

Bestechend einfach klingt diese Audience Development-Strategie. Dresden zeigt, dass gerade hierin ein Schlüssel zum Erfolg liegt. Wichtig ist zudem der Faktor der Kontinuität. Fünf Produktionen werden pro Spielzeit erarbeitet und sind fest in den Spielplan integriert, häufig sogar über die aktuelle Spielzeit hinaus. Klassikerstoffe wie Faust oder Odysseus werden je nach Inszenierung gleichermaßen aufgegriffen wie soziale und politische Fragen, z.B. nach Rechtsextremismus, Migration und Arbeitslosigkeit. Über 1500 LaiendarstellerInnen haben bislang mitgemacht. Das Stück Ich armer Tor bedient sich etwa der Technik der Fortschreibung und individualisiert den Schwerpunkt des Faustschen Dramenstoffes, indem es Männer in der Midlife-Crisis auffordert, sich szenisch mit ihrer eigenen Lebensmitte auseinanderzusetzen. In der Konzeption unserer Projekte stellen wir uns bei jeder Inszenierung die Frage, was das Spezifische ist, das Laien zum Projekt beitragen können, sagt Brückel. Es geht immer um eine Art künstlerischen Mehrwert, der durch die Beteiligung von nicht-professionellen Darstellern entsteht. Dieser Mehrwert kommt meistens dadurch zustande, dass die Darsteller in ihrer Persönlichkeit sichtbar werden und Erfahrungen aus ihrer Lebenswirklichkeit auf die Bühne bringen. In Bürgerbühnenproduktionen geht es nie darum, einfach nur ein Stück aufzuführen. Aus Laien sollen bei uns keine Schauspieler gemacht werden.

Geht es also um die Aufmerksamkeitshascherei eines based on a true story? Bleibt es bei der Befriedigung des bürgerlich-konservativen Voyeurismus des stereotypen Theatergängers? Im Bürgerbühnenstück Legal, illegal, scheißegal heißt es in bester Publikumsbeschimpfungstradition: Sie sind also gekommen, um Punks zu sehen? Sie wechseln doch sonst immer so schnell die Straßenseite?

Mit Hyperrealismus gegen das Erinnern

Der Bürgerbühne merkt man ihr Bestreben zur Performativität und zur Eventisierung sicherlich stärker an als mancher Klassikerinszenierung. Sie ist unmittelbarer, verheddert sich nicht so sehr in Rezeptions- und Assoziationsschleifen. Dem Vorwurf, Menschen bloß zur Schau zu stellen, widersetzt sie sich allerdings vehement. Man will keinen Sozialkitsch, keinen Menschen-Zoo, keine Klischees reproduzieren. Deshalb werden die Mitwirkenden auch so heterogen wie möglich zusammen auf die Bühne gestellt. Vorhandene Stereotype und Kategorisierungen sollen nicht bedient, sondern dekonstruiert werden. Basierend auf den Errungenschaften der Postdramatik arbeitet die Bürgerbühne daher eher mit hyperrealistischen Darstellungsweisen. Die Frage nach der Wirklichkeit stellen wir uns immer wieder und stellen dabei fest, dass Erinnern selbst ein konstruktiver Prozess ist. Wer sich erinnert und von eigenen Erfahrungen berichtet, schreibt sein Gedächtnis um, meint Brückel. Und: Diese Erkenntnis hilft uns, mit Erinnerungen auch kritisch umgehen zu können und diese zu hinterfragen.

In diesem Sinn definiert die Bürgerbühne auch auf zweifache Weise ihren Bildungsauftrag. Sie sensibilisiert für Klischees und regt zur Selbstreflexion an. Brückel erläutert: Das Theater bietet die Möglichkeit, das eigene Leben als Rolle zu betrachten und auf einer Bühne spielerisch damit umzugehen. Etwas und sei es das eigene Leben aus einer anderen Perspektive betrachten zu können, ist meines Erachtens einer der wichtigsten Aspekte von Kunst.

Bildungsauftrag für die Theater

Selbstreflexion spielt dabei nicht nur für die Mitwirkenden und das Publikum eine Rolle. Auch dem Theater wird vom Bürgerensemble der Spiegel vorgehalten, wodurch der Selbstreferentialität und mythischen Überhöhung des eigenen Standes eine Absage erteilt wird. Synergien gibt es auf beiden Seiten. Die Bürgerbühne ist eine Probebühne des Lebens, so die Leiterin der Bürgerbühne Dresden, Miriam Tscholl. Und David Benjamin Brückel meint: In gewisser Weise sind uns die Bürger weit voraus. Die Bezeichnung Experten des Alltags, die von Rimini Protokoll geprägt wurde, weist ziemlich genau auf das Verhältnis zwischen den Darstellern und uns Theaterleuten hin. Im Hinblick auf künstlerische und theatrale Vorgänge sind wir die Profis, was jedoch spezifisches Fachwissen, gelebte Geschichte und mitgebrachte Geschichten anbelangt, ist es häufig genau umgekehrt.

Brückel stellt fest, dass sich durch die Bürgerbühne ein neuer Diskurs übers Theater bildet. Umgekehrt wird auch Kultur zum Resonanzraum, indem sie sich für soziale Fragen öffnet. 40 % der BürgerbühnendarstellerInnen waren vorher nicht im Theater. Jeder Laiendarsteller bringt 20 Freunde mit und geht auch in reguläre Inszenierungen. Die Bürgerbühne lohnt sich auch ökonomisch als Audience Development-Strategie. Und das, ohne Inklusion oder Interkulturalität als qualvolle, weil eben von der Politik verordnete, Selbstkasteiung zu begreifen. Wo aber bröckelt ein so einträchtig anmutendes Theateridyll?

Laut Tscholl kann die Bürgerbühne an soziale, thematische und lokale Grenzen stoßen. Desinteresse des intendierten Publikums wäre ihrer Ansicht nach ein soziales Versagen der Bürgerbühne. Thematische Grenzen tun sich auf, wenn es um die Darstellung von Täterschaft anhand realer Personen geht und lokale Grenzen werden dort gezogen, wo die Bereitschaft des Publikums endet, lange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen. Umso wichtiger ist auch hier also ein enges Zusammenspiel von Kunst und Vermittlung, Pädagogik und Marketing.

Die Bürgerbühne ersetzt weder Gerichtssäle noch wirkt sie als Heilmittel gegen Kulturpessimismus. Und sie bleibt ihrer Institution verhaftet. Selbst wenn sie die Spielstätte verlässt, bleibt ihre Beweglichkeit beschränkt, der institutionalisierte Rahmen ist aber zugleich ihr Schutzraum, ist ihr doch der Etat des Hauses sicher und muss sich nicht von Produktion zu Produktion um Projektmittel bemühen. Somit läuft die Bürgerbühne pompös ausgestattet wie jede andere Staatstheaterinszenierung auch der freien Szene nicht den Rang ab. Und mitmachen darf man bei der Dresdner Bürgerbühne ohnehin nur einmal. Damit wo wir wieder bei der Kultur für alle wären jeder eine Chance hat.

Literatur:

Hajo Kurzenberger und Miriam Tscholl (Hg.): Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell. Berlin 2014.

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