29.04.2024

Buchdetails

Theater der Distribution: Künstlerische und kulturpolitische Konzeptionen von Gastspielhäusern in der deutschen Theaterlandschaft
von Silvia Stolz
Verlag: transcript
Seiten: 492
 

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Autor*in

Theresa Schütz
ist promovierte Theaterwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Theorie und Ästhetik zeitgenössischer performativer Künste, Theaterkritikerin und Kulturjournalistin sowie Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich "Affective Societies" an der Freien Universität Berlin. Sie forscht u.a. zu Dynamiken aktueller Transformationsprozesse institutionellen Wandels in Theater- und Kulturbetrieben.
Buchrezension

Theater der Distribution. Künstlerische und kulturpolitische Konzeptionen von Gastspielhäusern in der deutschen Theaterlandschaft

Gastspielhäuser erfüllen einen zentralen Beitrag zur kulturellen Grundversorgung in Deutschland, werden von Presse, Wissenschaft und Diskurs allerdings meist ignoriert. Was zeichnet Gastspielhäuser aus? Worin könnte ihr Zukunftspotenzial liegen? Silvia Stolz hat sich in einer ersten umfassenden Studie dieser unterschätzten Organisationsform gewidmet.
 
Die Studie "Theater der Distribution. Künstlerische und kulturpolitische Konzeptionen von Gastspielhäusern in der deutschen Theaterlandschaft" von Silvia Stolz ist ein Plädoyer für eine intensive Auseinandersetzung mit den existierenden Organisations- und Distributionsformen der Gastspieltheater. Die gleichnamige Dissertation, die die Autorin im Fach Kulturpolitik an der Universität Hildesheim eingereicht hat, wurde im Jahr 2023 im transcript Verlag publiziert. 
 
Ausgangspunkt bildet das Narrativ der Krise. Theater, insbesondere die öffentlich finanzierten Staats- und Stadttheater, befinden sich dem öffentlichen Diskurs der letzten Dekade zufolge in einer multiplen Dauerkrise: Sinkende Zuschauer*innenzahlen bei einem konstant alternden Publikum, mangelnde Diversität auf und hinter der Bühne, Machtmissbrauchsvorfälle bei Leitungsmitgliedern, fehlende Nachhaltigkeitsstrategien, zu hohe Personalkosten, ein Hang zur Überproduktion bei sinkenden Mitarbeiter*innenzahlen sowie steigende Konkurrenz nicht nur durch digitale Formate, sondern auch durch Angebote aus dem Privatsektor. All dies setzt öffentlich geförderte Theaterbetriebe massiv unter Legitimations- und Transformationsdruck. Dieser wird noch verstärkt von Arbeitskämpfen der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), dem ensemble-netzwerk und Initiativen wie Fair Stage oder Pro Quote Bühne, die sich für bessere Arbeitsbedingungen oder faire, gleichberechtige Entlohnung einsetzen. 
 
In ihrer Studie akzentuiert Silvia Stolz, dass sich all diese Diskurse primär um öffentlich finanzierte Bühnen drehen und diese dabei häufig als "das" Theater im deutschsprachigen Raum verallgemeinert würden. Das sei allerdings fatal, da die deutsche Theaterlandschaft wesentlich ausdifferenzierter ist. So gibt es noch das für strukturelle wie ästhetische Innovationen entscheidende Freie Theater, die wachsende Anzahl von Privattheatern, den großen Bereich des Amateurtheaters sowie: das aus 530 (!) Häusern bestehende deutschlandweite Netz von Gastspieltheatern. Sie alle sind ebenfalls von den genannten Krisen betroffen. Mit Blick auf virulente Reformdebatten sei es deshalb entscheidend, diese Landschaft als Ganzes zu begreifen, insbesondere angesichts perspektivisch kleiner werdender Haushalte für Kultur. 
 
Forschungslücke Gastspieltheater 
 
Gastspieltheater, auch "Bespielbetriebe" genannt, sind "eine spezifische Form von kommunaler Institution oder Organisation, deren Auftrag es ist - unabhängig von der Art der Rechtsträger - kontinuierlich Aufführungen der Darstellenden Künste zu veranstalten - mit dem kulturpolitischen Zweck, das Theaterangebot in einer Kommune sicherzustellen" (S. 34). Ihre Hauptaufgabe besteht also darin, ein vielfältiges und zugleich nachfrageorientiertes Programm aus dem existierenden Theatermarkt für die jeweilige Stadtgesellschaft zu kuratieren. 
 
Stolz arbeitet als Problemstellung für ihre Arbeit einen zentralen Widerspruch heraus: Das Credo "Kultur für alle", das als Relikt teilhabeorientierter Kulturpolitik der siebziger Jahre noch heute fortlebt, bleibt eine Mär. Sie erinnert daran, dass 90 % der öffentlichen Subventionen an Ensembletheater in den Metropolen gehen, wenngleich 70 % der Bevölkerung außerhalb dieser wohnen. Insgesamt sei die Kunstform Theater also nur für knapp 55 % der Bevölkerung unmittelbar zugänglich - und das auch nur, weil Gastspieltheater in der Fläche wirksam sind, insbesondere in Mittelstädten unter 500.000 Einwohner*innen. Sie erreichen fünf Millionen Menschen im Jahr; ein Viertel aller Theaterbesucher*innen erleben Theater in Gastspielhäusern. Bei der kulturellen Grundversorgung kommt diesen also ein ungleich größeres Gewicht zu als den Ensembletheatern - und trotzdem werden sie nicht adäquat beachtet, auch nicht von der Forschung. 
 
Stolz schließt mit ihrer Studie demnach eine wichtige Forschungslücke. Sie trägt nicht nur das wenige vorliegende Wissen zusammen, sondern erzeugt über zwanzig anonymisierte Expert*inneninterviews auch aktuelles, praxisbezogenes Wissen, das sie mittels einer Politikfeldanalyse aufarbeitet. Hierbei geht es darum, herauszuarbeiten, welche die konkreten Absichten und Zielvorstellungen kulturpolitischer Akteur*innen mit Blick auf Theaterinstitutionen sind und wie letztere - z.B. als Orte der kulturellen Bildung oder gelebter Diversität - zu Instrumenten der Kulturpolitik werden können. 
 
Ideenlücken bei der Kulturpolitik 
 
In der potenziellen Doppeldeutigkeit des Buchtitels wird eine Ambivalenz deutlich, die kritisch zu wenden ist: Einerseits sind Gastspieltheater zentrale kulturpolitische Akteure für die Distribution der Darstellende Künste. Andererseits offenbart sich bei genauem Blick in die Strukturen das ganze "Theater" der Distribution - im tendenziell abwertenden Sinne, vor allem hinsichtlich des Status Quos der Kultur-, bzw. Theaterpolitik. Hier zeichnet Stolz ein düsteres Bild: In vielen Kommunen sei die Theaterpolitik von Traditionalismus und Konservatismus geprägt. Es überwiege eine Sprache in Floskeln (kulturelle "Daseinsvorsorge" leisten), wo konkrete, auch plurale Zielvorstellungen notwendig wären - etwa in Hinblick auf klar formulierte Aufträge an die öffentlich geförderten Institutionen. In Krisenzeiten werde mit Kürzung, Spartenschließung, Fusion oder Wahrung des Status Quo reagiert, anstatt aktiv Prozesse für die Zukunft zu gestalten. Es herrsche Lethargie in Sachen Change Management. Programme von Gastspielhäusern würden wie ein konturloser "Gemischtwarenladen" kuratiert, wo Profilschärfung und kreativer Wagemut wichtig wären. Als eine zentrale Ursache für diese transformationshemmenden Begebenheiten nennt Stolz das Fehlen von Fachpersonal insbesondere in kleineren Kommunen. Der Theaterpolitik fehlt schlicht Nachwuchs mit entsprechender Expertise (oder kommt noch zu wenig zum Zug?). Statt Menschen mit einem beruflichen Kunstbezug seien in den Kulturämtern laut Stolz häufig Verwaltungsangestellte, Jurist*innen oder Lokalpolitiker*innen tätig.
 
Diese Situation ist ein großes Dilemma, weil die Organisationsform Gastspielhäuser eigentlich viel Potenzial für die Zukunft habe. Denn Gastspielhäuser sind vielfältig in Bezug auf die Gebäudearchitektur und das Programmspektrum, bieten bessere Arbeitsbedingungen ohne NV-Verträge, haben höhere Einspielquoten und zeigen existierende Produktionen überregional, statt sie gleich wieder abzuspielen, was auch die Nachhaltigkeit fördert. Hierin gibt es Ähnlichkeiten mit Produktionshäusern, wie sie in den letzten Jahrzehnten im Bereich des Freien Theaters entstanden sind. Stolz sieht ein großes Potenzial in einer verstärkten Kooperation mit Künstler*innen der lokalen Freien Szene, die an Gastspielhäusern produzieren könnten. Hierin läge auch die Möglichkeit in der Programmplanung, einer dominanten "Dramaturgie in zweiter Instanz" zu entkommen, die lediglich einlädt, was es auf dem Markt gibt. 
 
Hierin kommen nicht zuletzt praktische Wünsche weniger der Theoretikerin als der Praktikerin Silvia Stolz zum Ausdruck, die seit der Spielzeit 2023/24 selbst Intendantin am Stadttheater Fürth ist, einem der wenigen Gastspielhäuser, das über ein eigenes Ensemble verfügt und selbst produzieren kann. So erhalten all ihre Ausführungen nochmal besondere Glaubwürdigkeit und erfahrungsgesättigte Substanz. 
 
Lückenlosigkeit als Nachteil 
 
Mit ihrem Buch "Theater der Distribution" schließt Stolz zweifellos eine Forschungslücke, es ist biografisch schlüssig und transparent in ihren beruflichen Werdegang eingelassen und das Material ist zweifelsfrei so reichhaltig, dass es einen imposanten Einblick in die Gastspielhäuser als tragender, fünfter Säule der deutschen Theaterlandschaft liefert. 
 
Leser*innen stellt der Anspruch der Autorin auf Vollständigkeit bei der Bearbeitung des Gastspieltheaterthemas allerdings durchaus auf eine harte Probe. Sie kartografiert zunächst so lückenlos das Feld, dass das eigentliche Thema erst auf Seite 189 in den Fokus rückt. Dann widmet sie sich in dem zweihundertseitigen (!) siebten Kapitel der Auswertung der geführten Interviews, die nicht nur kommentiert, sondern in unverhältnismäßig langen Zitaten mitaufgenommen werden. Hier hätten radikale Kürzung und weitergehende Bearbeitung des eingereichten Manuskripts gutgetan, da sich im Fortgang unvermeidliche Redundanzen häufen, die zur Ermüdung führen. 
 
Anstelle des Überblicks des Status Quos dieses unerforschten Feldes hätten mich von einer Expertin wie Silvia Stolz noch mehr konkrete künstlerische und kulturpolitische Konzeptionen - so wie vom Untertitel versprochen - interessiert. Diese haben in den letzten beiden, recht kurz gehaltenen Kapiteln leider eher ausblickenden Charakter. Das ist schade, denn mit ihrer Akzentuierung, Gastspielhäuser als Modelle zukunftsfähiger, institutioneller Hybride zu begreifen, kommen - ähnlich wie Kulturmanager Thomas Schmidt das aktuell aktiv tut - endlich konkrete Vorschläge zu Wort. Gastspielhäuser könnten hybride Kreativhäuser sein, die auch tagsüber von Menschen aus der Stadtgesellschaft genutzt werden können, müssten allerdings auch mehr Profilbildung beim Programm wagen, um Identifikation zu erhöhen, und sich stärker in Kooperationsbeziehungen mit regionalen Künstler*innen und Initiativen begeben. Damit verbunden bräuchte es eine Reform der öffentlicher Theaterförderung (z.B. Umverteilung und zeitlich begrenzte institutionelle Förderung), mehr Theaterentwicklungspläne sowie Fachkommissionen, die Häuser evaluieren, bevor weitere Förderungen zugesagt werden. Ideen also, ohne die der "offensichtliche Reformbedarf der deutschen Theaterlandschaft" niemals zu bewältigen ist. 

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