07.03.2022

Themenreihe klimafreundlich

Autor*in

Jens Gottschau
ist 1981 als Sohn eines gebürtigen Hamburgers und einer französisch-mauritianischen Mutter in Hamburg geboren. Nach Abschluss seines Illustrations-Studium wendete er sich zunächst der freien Kunst zu und finanzierte seine Miete als Handwerker. 2013 gründete er die Hanseatische Materialverwaltung die er seitdem leitet.
Die Hanseatische Materialverwaltung

Vorzeigeprojekt am Rande des Existenzminimus

Die Hanseatische Materialverwaltung (HMV) ist eine Material-Kreislauf-Initiative, eine neuartige kulturelle Infrastruktur, ein Quartiers- und Stadtentwicklungsprojekt, ein soziokulturelles Zentrum, ein dritter Ort... Er ist der Versuch, das Richtige im Falschen zu tun. Eine Erfolgsgeschichte und ein Vorzeigeprojekt am Rande des Existenzminimums.

Themenreihe klimafreundlich

Das Konzept der HMV ist ganz einfach, einleuchtend und schnell erklärt: Statt all die auffälligen Kulissen, Aufbauten und anderen Produktionsmittel schweren Herzens und mit schlechtem Gewissen zu entsorgen, können diese von der Freien Szene (und anderen) noch einmal (und nochmal und nochmal...) zu neuem Leben erweckt werden. Alles, was es dazu braucht, ist ein zentral gelegenes Lager und, wie sich herausstellen sollte, ein schier unerschöpfliches Engagement. Denn von Vorneherein war klar: Das Ganze ergibt nur Sinn, wenn es in der nötigen Größe umgesetzt wird, um relevant für ganz Hamburg sein zu können. Nur wenn die großen Institutionen der Hochkultur regelmäßig einen Teil ihrer überfüllten Lager bei uns "loswerden", und nur wenn Ausstatter:innen gute Chancen haben, bei uns fündig zu werden, entsteht ein echter Mehrwert.
 
Ende 2011 wurde ich darauf angesprochen, dass die Stadt auf der Suche nach einem Projekt sei, um den Transformationsprozess des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs Oberhafen als Kultur- und Kreativquartier einzuläuten. Zu dem Zeitpunkt lag das Konzept bereits seit einigen Jahren in einer Schublade bei mir Zuhause auf St.Pauli. Ich war jung, freischaffender Handwerker, Künstler, Herumtreiber, und hatte wenig Ahnung von Kulturmanagement, Betriebswirtschaft, Kulturpolitik, Fundraising, Logistik. Ich hätte mich auf die ausgeschriebene Stelle niemals beworben, wenn mir nicht von einer gemeinsamen Freundin Petra Sommer vorgestellt wurde. Sie hatte, fast genauso lange wie ich, ein fast identisches Konzept in einer Schublade liegen. Nach 20 Jahren Ausstattung und Szenenbildnerei für große Produktionsfirmen war sie gerade auf dem Sprung nach Berlin, um ihren Job an den Nagel zu hängen, sich eine Auszeit zu nehmen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. "Keine große Projekte mehr", sollte ihr neues Motto werden. Ha Ha Ha! Genau.
 
Als ich ihr von der einmaligen Gelegenheit berichtete, eine zentral gelegene Lagerhalle zu günstigen Konditionen anzumieten, war ihre Reaktion: "Verdammt... das muss gemacht werden! Gibt mir einen Tag Bedenkzeit." 
 
24 Stunden später hatte sie alle ihre Pläne über den Haufen geworfen. Wir hatten noch genau 11 Tage Zeit, um das Konzept auszuarbeiten, die Kosten zu überschlagen, den Namen zu erfinden. In diesem Moment entstand bei mir ein Gefühl, das bis heute andauert: Es war die richtige Idee, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Und diese Idee hat sich uns einfach unter ihren imaginären Arm geklemmt - nicht umgekehrt. Am Anfang waren es nur diese Idee und wir zwei Privatpersonen ohne nennenswerte Mittel oder Einfluss. Aber wir hatten das Glück, das Konzept einer sehr diversen Jury vorzustellen. Dadurch wurde das Ganze schnell weit gestreut. Und der Bedarf bei Materialspender:innen und Nutzer:innen war definitiv groß. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation aus der zweiten Jurysitzung. Ein mir damals unbekannter Mensch aus der Kulturbehörde begann, sich wie manisch die Haare zu raufen. Hatte ich etwas Falsches gesagt? "Ich frage mich, wie wir das umgesetzt bekommen!", sagte er schließlich. Eine Frage, die mich bis heute begleitet.
 
Wie Ihr Euch denken könnt, bekamen wir den Zuschlag. Außerdem schlossen sich vier städtische Institutionen zum Aufbringen der Anschubsfinanzierung zusammen. Wie mir von einer alten Häsin gesagt wurde, ein extrem ungewöhnlicher Vorgang. Normalerweise wird das finanzielle Engagement Einzelpersonen zugeschoben; alle anderen sind fein raus. Ein frühes Zeichen für die verbindende Kraft der Idee. Aus den zwei Privatpersonen ist mittlerweile ein Team aus zwölf Freien und Festangestellten geworden (im Vollzeitequivalent ca. fünf Stellen). Aus ursprünglich 600 wurden 1.200 Quadratmeter Lagerfläche. Eine ähnlich große Außenspielstätte mit Bühne wird vor allem im Sommer bespielt. Damit dieser Artikel nicht zu einem Werbetext verkommt, will ich es zunächst bei dieser kurzen Aufzählung unserer Errungenschaften belassen und mich den wirklich interessanten Fragen widmen.
 
Gesellschaftliches Potential
 
Der vielleicht spannendste Aspekt ist das gesellschaftliche Potential, das indirekt durch die Weitergabe von Bühnenbildern, Requisiten und Materialien erschlossen wird. Es gibt kaum einen Bereich der Kultur, in dem nicht zumindest zu besonderen Anlässen physische Objekte benötigt werden. So entstehen mit der Zeit neue Verbindungen zwischen zuvor komplett voneinander getrennten Akteur:innen. Da die Materialien oftmals von den großen Institutionen in Richtung der vielen kleinen Kulturschaffenden weitergegeben werden, wird der Graben zwischen Hoch-(subventionierter-)Kultur und Subkultur ganz konkret überbrückt.
 
Seit dem ersten Jahr veranstaltet die Materialverwaltung zweimal im Jahr große Straßenfeste. Budenzauber, Flohmarkt und Kinderbespaßung gehen über in eine bunt beleuchtete Nacht mit Tanzlustbarkeiten. Das Licht kommt dabei von einem befreundeten Künstler, der sonst die Pyramiden von Gizeh oder die Fashion Week in New York beleuchtet. Über seine Kontakte werden LKW-Ladungen neuester Lichttechnik unentgeltlich angeliefert. Die Musik kommt von DJs aus der Hamburger Club-Szene, die (zum Teil) ansonsten international für hohe Gagen spielen. Dabei ist das wirklich Außergewöhnliche, dass das gesamte Veranstaltungsformat für ein sehr diverses Publikum durchlässig ist: Rentner:innen, Familien, Kulturschaffende und verschiedene subkulturelle Szenen treffen aufeinander. Dabei legen wir viel Wert darauf, die Ankündigung gerade so weit zu streuen, dass kein Massenevent daraus wird. Ein paar Tausend Gäste über ein Wochenende, mehr verträgt das Gelände nicht. Das gelingt uns bisher gut, weil wir zu unseren Veranstaltungen kleine Auflagen liebevoll gestalteter Flyer und Plakate an Orten verteilen, an denen wir uns selbst wohlfühlen, anstatt großflächig zu plakatieren. Ansonsten informieren wir hauptsächlich über unsere eigenen Social Media-Kanäle (ca. 15.000 Abonnent:innen) sowie unsere Rundmail (ca. 3.000). Dadurch erfahren auch Medienschaffende von deb anstehenden Festivitäten, und nicht selten fragen diese dann gezielt nach Pressematerial - was wir in Fällen von Blättern mit sehr großer Reichweite (und vielleicht auch zweifelhafter Kompatibilität) auch schon mal ablehnen.
Wirtschaftlicher Überlebenskampf
 
Die besondere Atmosphäre, die entsteht, wenn sich so viele Akteur:innen uneigennützig einbringen, beruht auf einem speziellen Gefühl. Ein Gefühl, das wir gemeinsam zu feiern haben! Und das wiederum beruht darauf, dass wir aus den Werten, die dem Fundus gespendet werden, vorrangig gesellschaftlichen Mehrwert generieren - also unsere Motivation eben nicht in der Verwertung liegt. Ein Dilemma. Denn hier drin liegt die Bedingung für den großen Erfolg des Projekts ebenso wie die Gründe für den andauernden wirtschaftlichen Überlebenskampf. Dieses Dilemma findet sich auch auf anderen Ebenen des Betriebs. So wurde beispielsweise immer wieder vorgeschlagen, dass wir Materialabgabegebühren erheben sollten, um unsere finanzielle Basis zu verbessern. Das hätte allerdings zur Folge, dass viele der wirklich wertvollen Spenden nicht mehr ihren Weg in den gemeinnützigen Fundus finden würden. Aus dem Wunsch uns zu unterstützen, betreiben die Materialspender mitunter einen erheblichen Aufwand. Diese Bereitschaft ginge verloren, wenn wir (zu sehr) ein Geschäft daraus machen würde. Nicht zuletzt beruht das Engagement des Teams auf dem ehrlichen Bekenntnis zum gemeinnützigen Grundgedanken. 
 
Im größeren ökonomischen Rahmen stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit in einem so krassen Widerspruch zu einander stehen. Wenn die Materialverwaltung aus finanziellen Gründen, trotz des enormen Engagements, doch noch scheitern sollte, ergibt sich daraus die Schlussfolgerung: Wir können es uns als Stadtgesellschaft nicht leisten, all diese Werte zu erhalten, sondern müssen sie aus ökonomischer Vernunft verschrotten. Offensichtlich ist das Gegenteil richtig! Wem das nicht sofort einleuchtet, kann vielleicht durch einen Blick nach New York überzeugt werden. Seit 1979 gibt dort die "Materials for the Arts". Auf 20.000 Quadratmeter werden hier gespendete Materialien umsonst an Schulen und Künstler:innen weitergegeben. Das Projekt wird fast gänzlich von der Stadt finanziert. Die Effizienz dieses von wirtschaftlichen Zwängen befreiten Systems ist erstaunlich. Mit jedem eingesetzten Dollar können Materialien mit einem Wert von 5,80 Dollar für gemeinnützige Zwecke weitergegeben werden. 
 
Vorteile natürlicher Autoritäten nutzen 
 
Aber kehren wir zurück ins kleine Hamburg, in die relativ kleine Materialverwaltung und werfen einen Blick nach innen: auf die Arbeitswelt. Trotz der zum Teil sehr widrigen Umstände (unsere Hallen sind unbeheizt, ohne Tageslicht und fließend Wasser und die Gehälter nicht gerade üppig) ist die Zufriedenheit im Team sehr hoch. Denn ohne, dass uns das explizit bewusst war oder gar von uns forciert wurde, haben wir neue Formen der Zusammenarbeit und Organisation etabliert, wie sie beispielsweise in dem Buch "Reinventing Organizations" von Frederic Laloux beschrieben werden. Im Kern geht es darum, dass die Arbeit sich nach den Menschen richtet und nicht umgekehrt. So hat jede:r neue Mitarbeiter:in den Betrieb sowie den physischen Ort mit geprägt und in eine neue Richtung mitentwickelt. Das Prinzip dahinter ist denkbar einfach: Es gibt eine Art "natürliche Autorität", die immer dann entsteht, wenn Menschen sich selbst durch ihre Arbeit in einem Bereich einbringen. Wenn das respektiert wird, geschehen gute Dinge. Ich bin zwar Geschäftsführer, aber auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet bestimme ich nicht über die anderen. Wir dienen vielmehr einander, jede:r auf ihre:seine Art.
 
In diesem Sinne ist der hier beschriebene Blick auf uns als Team, als Kulturort und Herzensprojekt sehr persönlich. Sicherlich würde jede:r andere Mitarbeiter:in andere Aspekte hervorheben.
 
Ausblick
 
Die langfristige Vision der HMV endet nicht in den eigenen vier Wänden. Das erarbeitet Konzept soll in Teilen oder im Ganzen eine Blaupause sein für Material-Initiativen in ganz Deutschland und darüber hinaus. Neben einer Pop-Up-Version der HMV in Kooperation mit den Urbanen Künsten Ruhr in Bochum häufen sich seit wenigen Jahren Kontaktaufnahmen und Beratungsgesuche von Akteur:innen mit ähnlichen, teils bereits implementierten Ideen. Die Kulturstiftung des Bundes hat 2020/21 ein Programm aufgesetzt, um ähnliche Erfolgsgeschichten möglichst in allen Metropolen in Deutschland zu befördern. Der nächste wichtige Schritt wird in der weiteren Vernetzung und der formellen Gründung eines Verbandes liegen. Wir hoffen, damit mit der neuen Kulturstaatsministerin ins Gespräch kommen zu können, wie sich die Bedingungen für diese Initiativen grundsätzlich verbessern lassen. Dass Materialkreislauf-Initiativen im Kulturbereich nicht nur zukunftsweisend, sondern dringend notwendig sind, wird im allgemeinen Diskurs glücklicherweise nicht mehr in Frage gestellt. Allerdings fehlt eine substanzielle Unterstützung der diversen Initiativen, da sie gerade durch die Verbindung von Nachhaltigkeit - Kulturförderung - Stadtentwicklung - Bildung aus dem bestehenden Raster der Zuständigkeiten fallen. So gerne die HMV neuen Materialinitiativen detailliert mit Rat und Tat zur Seite steht, lautet der heißeste Tipp an die neuen Materialprojekte (und zugleich die lauteste Forderung an die Verantwortlichen): Die Finanzierung muss gesichert sein. 
 
Gerade wegen des großen Idealismus, von dem in diesem Artikel so viel berichtet wurde, ein etwas ernüchterndes Resümee. Daher möchte ich mit einem kleinen Bonmont zu diesem Thema schließen. Und zwar mit einem Ausspruch meiner Oma: "Geld spielt keine Rolle, außer man hat keins." Nicht nur in diesem Sinne wünsche ich uns allen eine Zukunft, in der Geld eine möglichst kleine Rolle spielen möge.
 
Dieser Beitrag erschien zuerst im freien Teil des Kultur Management Network Magazin Nr. 164: "Freischaffender Kulturbetrieb".

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