14.12.2020

Autor*in

Kristin Oswald
leitet die Online-Redaktion von Kultur Management Network. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Jena und Rom sowie Social Media-Marketing in Berlin. Sie ist freiberuflich in der Wissenschaftskommunikation und im Museumsmarketing mit Schwerpunkt online tätig.
Humanität im Kulturbetrieb

Der vergessene Mensch

Verliert der Kulturbetrieb zugunsten guter Kunst seine Menschlichkeit aus dem Blick?
In uns brodelt es. Dirigent*innen, die Musiker*innen und Mitarbeiter*innen beschimpfen. Intendant*innen, die Mitarbeiter*innen bedrohen. Künstlerische Leiter*innen, die Künstler*innen sexuell belästigen. Museumsdirektor*innen, die Mitarbeiter*innen kleinhalten. Die Rücksichtslosigkeit, die Freischaffende und befristete Mitarbeiter*innen in Kultureinrichtungen ertragen müssen. Und Aufsichtsgremien und Verwaltungsräte, die all das abnicken im Namen der Freiheit und der Qualität der Kunst. Das macht uns wütend.
 
Versetzen Sie sich einmal in die Lage dieser Menschen: Sie haben studiert, vielleicht promoviert, jahrelang geübt und gelernt. Sie sind gut in dem, was sie tun, und wollen immer besser werden. Und dennoch gehen Sie jeden Tag auf Arbeit mit der Angst, heute wieder ignoriert, angeschrien oder gar unangemessen berührt zu werden. Sie können nicht schlafen, haben Alpträume, fühlen sich erniedrigt und wertlos. Doch das interessiert niemanden. Im Gegenteil: Sie sollen noch dankbar dafür sein, dass Sie die Gelegenheit bekommen, dieser Arbeit nachgehen zu dürfen. Als hätten Sie Ihren Job im Lotto gewonnen - und selbst das würde ein solches Verhalten nicht rechtfertigen. 
 
Ja, Kunst und Kultur müssen frei sein und sie müssen gut sein, keine Frage. Doch es scheint, als ob der Mensch gerade im öffentlichen Kulturbetrieb hinter der Kunst zurücktritt, ja scheinbar kaum eine Rolle spielt. Denn auch wenn Kunst und Kultur frei sind, existieren sie doch nicht im luftleeren Raum. Sie haben einen Sinn, sollen Perspektivwechsel fördern, die Gesellschaft reflektieren. Ob und wie sie diesen erfüllen, ist dabei nur eine Frage. Sie wird heiß diskutiert, aber eine Antwort gibt es bisher kaum. 
 
Die andere, eher selten diskutierte Frage ist, ob dieser Sinn und die Qualität der Kunst alle Mittel heiligen. Und ob nicht auch die Menschen, die Kunst und Kultur machen, im Fokus der Einrichtungen stehen sollten - und nicht nur diejenigen, die sie besuchen oder bewerten. 
 
Können also Kunst und Kultur ihren Zweck überhaupt erfüllen und können die öffentlichen Träger es rechtfertigen, wenn sich die Menschen im Kulturbetrieb nicht nur mit schlecht bezahlten und befristeten Verträgen abfinden müssen, sondern auch schikaniert oder belästigt werden? Ist das nicht scheinheilig? Kann Kunst tatsächlich gesellschaftliche Zustände kritisieren, wenn sie diese Zustände selbst hinnimmt oder sogar für notwendig hält, um "das Beste" aus den Menschen herauszuholen? 
 
2017 begann die MeToo-Bewegung in den USA, ausgehend von der Film- und Fernsehbranche. Schnell zeigte sich, dass besonders diejenigen gesellschaftlichen Bereiche anfällig für Machtmissbrauch sind, in denen Führungspersonen aufgrund ihres scheinbaren Genies zu Alleinherrschern werden. Kunst und Kultur stehen demnach ganz oben auf der Liste, auch in Deutschland (Studie der International Labour Organization; Erhebung von Ann-Marie Quigg zum Kulturbereich). Doch mehr als Feuilleton-Debatten folgte daraus nicht, obwohl es durchaus niederschmetternde Studien und zahlreiche Erfahrungsberichte gibt. Das zeigt zwar, dass immer mehr Betroffene den Mut haben, solche Vorfälle öffentlich zu machen. Es ändert aber nichts, solange die Täter*innen nicht zur Verantwortung gezogen und stattdessen von den Einrichtungen, der Verwaltung und der Kulturpolitik geschützt werden.
 
Dann folgte Corona. Über die Relevanz von Kunst und Kultur und über das Prekariat der Kulturschaffenden wurde kaum je so intensiv gesprochen wie in diesem Jahr. Doch wurde meist nur die Oberfläche angekratzt. Wenn überhaupt, bekamen freie Kulturschaffende und Künstler*innen Gelder, um ihre Existenz zu sichern. Aber niemand fragte, warum sie eigentlich nicht in der Lage waren, Rücklagen aufzubauen. Zudem zwangen einzelne Häuser - der Kunst wegen - ihre Mitarbeiter*innen weiterhin und ohne Hygienekonzepte zu Proben. Andere erhöhten gnädigerweise die Überstundengrenzen oder schafften sie ganz ab, sodass die Mitarbeiter*innen mit Kindern diese dann im nächsten Jahr ausgleichen dürfen. Zugleich werden die Leiter*innen öffentlicher Kulturinstitutionen nicht müde, deren Schließungen zu beklagen. Aber über die verheerenden Folgen, die diese für ihre Künstler*innen, Freelancer*innen oder befristeten Mitarbeiter*innen mit sich bringt, sprechen sie nur am Rande. Und während in den Nachbarländern höhere Gagen und Ausfallhonorare beschlossen werden, hört man davon in Deutschland kaum etwas. Stattdessen wird sich auf "höhere Gewalt" berufen und die Betroffenen stehen zumindest zeitweise vor einer gescheiterten Existenz. 
 
Und trotz all dieser grundlegenden Probleme, die eigentlich nicht zu rechtfertigen und tief im Kulturbereich verwurzelt sind, hört man jetzt - nach MeToo, Corona und Black Lives Matter - aus den Häusern nicht etwa den Ruf nach Veränderung, sondern den nach einem Zurück zum Vorher.
 
Umso überraschender ist eine Studie des Rats für Kulturelle Bildung von Ende Oktober dieses Jahres. Übertitelt "Durch Kulturelle Bildung zu Good Leadership?" zeigt sie, dass die Beschäftigung mit kultureller Bildung Menschen zu besseren Führungskräften macht. Das ist mit Blick auf Machtmissbrauch und all die anderen Probleme im Kulturbereich überraschend, um nicht zu sagen absurd. Denn auch Führungskräfte in Kunst und Kultur haben eine kulturelle Bildung genossen und auch bei ihnen sollte "die intensive Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur vor allem die Selbstreflexion und den Erwerb sozialer Kompetenzen" fördern. Und trotzdem kommt es immer wieder zu diesen Fällen, die vieles zeigen, aber sicher keine sozialen Kompetenzen. Es muss also andere Faktoren geben, die erniedrigendes und missbräuchliches Verhalten fördern. 
 
Doch egal, wo man die Schuld sucht - in den Hierarchien der öffentlichen Verwaltung, in der Bevorzugung künstlerischer Qualität vor menschlichen Kompetenzen in Besetzungsprozessen für Führungspositionen, im mangelnden Zwang zu Weiterbildungen für Führungskräfte, in Aufsichtsgremien, die bei entsprechenden Beschwerden nicht einschreiten, in fehlenden Beschwerdestellen usw. - am Ende muss eines klar sein: Menschen treffen die Entscheidung, andere Menschen schlecht zu behandeln. Niemand zwingt sie dazu. 
 
Wenn Sie also aus diesem schwierigen Jahr mit einem guten Vorsatz gehen wollen, dann sollte es vor allem der sein: Holen Sie die Menschen um sich herum aus dem Vergessen. Seien Sie respektvoll, freundlich und rücksichtsvoll. Und überwinden Sie endlich die Scheinheiligkeit des Kulturbetriebs. Damit könnte dieser seine gesellschaftlichen Aufgaben mit neuem Blick angehen und dadurch nicht zuletzt tatsächlich systemrelevanter werden.

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Kommentare (1)
V
»Der Beitrag spricht einen sehr wichtigen Aspekt an, über den ich mir selbst schon oft den Kopf zerbrochen habe. Zu sehr verschwindet das Thema hinter dem \"Kampf der Kulturinstitutionen um ihre Bedeutung in der Gesellschaft\". Nicht nur auf der Bühne muss man gesellschaftliche Missstände aufzeigen, der Blick in die eignene Reihen sollte nicht verloren gehen. Der Kulturbetrieb muss stark über seine Zukunft und das bedeutet auch über seine Personalentwicklung und Führungsstile nachdenken. Es wäre wünschenswert, dass die Quantität an Output überdacht und eine neue, menschlichere (vllt sogar nachhaltigere) Form der Kulturproduktion möglich gemacht wird. «

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