04.12.2020

Autor*in

Julia Jakob
studierte Musikwissenschaft und Kulturmanagement in Weimar. Praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb sammelte sie bei unterschiedlichen Festivals und in verschiedenen Veranstaltungsbüros sowie als Agentin bei weim|art e. V. Seit 2021 ist sie die Chefredakteurin des Kultur Management Network Magazins und stellvertretende Leiterin der Redaktion.
Rückblick Most Wanted: Music 2020

Die Zukunft ist nah und doch so fern

Die Krise gemeinsam als Chancen zu nutzen und daraus umsetzbare Zukunftspläne schmieden, war für die Musik- und Veranstaltungswirtschaft in diesem Jahr vielleicht so wichtig wie noch nie. Hinzu kommen Themen wie ökologische Nachhaltigkeit, Diversität und Teilhabe. Eine Aufgabe, der sich die Tagung Most Wanted: Music auch 2020 erfolgreich - und digital - angenommen hat.
Im Digitalen können nur abgespeckte Versionen von Live-Events stattfinden, so das Mantra in vielen Bereichen des Kulturbetriebs. Das ist natürlich Humbug. Zumindest konnte MW:M20 mit seiner ersten komplett virtuellen Ausgabe alle Skeptiker*innen eines Besseren belehrt: Unter dem Motto "Togetherness. Distant Socialicing Instead of Social Distancing" haben die Veranstalter*innen und alle Beteiligten des Branchentreffs für die Musikszene gezeigt, dass digitale Formate nicht weniger fruchtbare und spannende Gespräche hervorbringen. So tauschten sich über 80 internationale Referent*innen aus der Musikwelt in mehr als 30 (teils parallel stattfindenden) Programmpunkten über die Gestaltung einer tragfähigen Zukunft für die Branche aus.

Die Moderationen waren dabei sehr angenehm, das Set-Up professionell und die musikalischen Einschübe auflockernd, wenn auch teilweise Geschmackssache. Kleine Technik- oder Verbindungspannen sind natürlich nicht ausgeschlossen und absolut verzeihbar. Ebenso ist bei einem ersten Versuch meist noch Luft nach oben: So war Vernetzung zwar über die Konferenzplattform in Form von Chats in den Panels und privat sowie über Anfragen für verbindlichere Tête-à-Têtes möglich. Aber so richtig ist hier der Funke noch nicht übergesprungen - zumindest bei mir nicht. Vielleicht auch, weil ich - in Ermangelung stattfindender Konferenzen - dieses Jahr etwas aus dem Tagungsrhythmus raus und von all dem Input zeitweise überfordert war. Mehr Pausen und generell etwas mehr Zeit für die verschiedenen Inputs wären im dichten Konferenzprogramm des ersten Tages auf jeden Fall wünschenswert gewesen. Das alles tut aber der Qualität und Dringlichkeit der besprochenen Inhalte keinen Abbruch.
Ein Blick in die Glaskugel

Die brennendste Frage Musikschaffender lautet in diesem Jahr wahrscheinlich: Wie kommen sie aus der Corona-Krise? Und welche Zukunftsperspektiven gibt es? Hierzu zeichnete Jens Michow, Präsident des Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft, in seinem Vortrag zum Panel "Live will survive - but how?" ein realistisches, wenn auch dystopisches Bild: "Von heute an ist mit einer "vollständigen Wiederherstellung" des Live-Betriebs in frühestens 24 Monaten, möglichweise aber auch erst in 42 Monaten zu rechnen (2 - 3,5 Jahre)." Damit verbunden geht er von einem Formatwechsel aus sowie von einem (schmerzhaften) Rückgang der Anzahl der Anbieter und der musikalischen Vielfalt. Dennoch ist er: "Live Entertainment wird stärker sein als zuvor, da sich der Veranstaltungsmarkt bis dahin konsolidieren und entwickeln wird."

Wenn die Szene aber überleben soll, müssen die Hilfspakete auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Marek Lieberberg, Konzertveranstalter und Geschäftsführer einer Künstlermanagementgesellschaft, prangerte das "bürokratische Labyrinth" der 25 Milliarden Euro schweren Überbrückungshilfen sowie von NEUSTART KULTUR an. Aber nicht nur der Aufwand, sondern auch die Anwendbarkeit der Hilfen müssten dringend überdacht werden. So beklagte Juliane Kindermann, Vorstandsmitglied von Booking United, im Panel "Musik 2030", dass Künstlervermittler*innen bisher durch alle Raster durchgefallen seien: " Wenn ein politisches Instrument einfach nichts taugt, dann hilft es auch nicht, an einer Stellschraube zu drehen, sondern dann braucht es ein anderes Instrument."

Zudem sprachen sich die Beteiligten beider Panels für einen anderen Umgang mit der Branche aus. Denn, wie DJane Ipek, bereits Anfang November richtig prognostizierte: "Dass es nach einem Monat Lockdown wirklich wieder für die Livebranche weitergehen kann, ist unrealistisch." Und seien wir ehrlich - auch nach dem 20. Dezember werden die Akteur*innen nicht arbeiten können wie zuvor, zumal ohne langfristige Perspektive. Für Lieberberg liegt deshalb ein wichtiger Schlüssel in der interdisziplinären Erarbeitung durch Branche, Politik und Wissenschaft von Lösungen dazu, wie Veranstaltungen coronakonform stattfinden können. So wären regionale "Cultural Thinktanks" denkbar, wie Jeannine Koch, Direktorin der re:publica und künftige Vorstandsvorsitzende des media:net berlinbrandenburg, vorschlug. Dabei müssen die Musikschaffenden selbst langfristige und gegebenfalls hybride Konzepte erarbeiten. Zudem können solche Thinktanks auch dazu beitragen, sich einmal die gesamte Infrastruktur einer Region anzuschauen.

Erprobte Lösungswege nutzen und ausbauen
 
Für einen solchen interdisziplinären Austausch  kann die Musik- und Veranstaltungswirtschaft auf Erfahrungswerte der Festivalbranche zurückgreifen. So sprach das Höme-Magazin mit den Festivals Electrisize, Wilde Möhre und dem Reeperbahn-Festival über die alternativen, pandemiekonformen Veranstaltungskonzepte, die im Sommer erprobt wurden. Neben einer reduzierten Publikumszahl:
  • gab es beim Elextrisize eine 360° Bühne mit farblich abgegrenzten Bereichen, in denen das Publikum tanzen konnte,
  • fand die Wilde Möhre über mehrere Wochenenden mit einem strengen Hygienekonzept statt, das u.a. Masken, ein auf sozialem Druck basierendes Ampelsystem und ein Achtsamkeitsteam der Security beinhaltete: Wer sich (ohne Maske) zu nah kam, hat ein Umschalten der Ampel von Grün auf Gelb verursacht, das bei weiterem Ignonieren der Regeln auf Rot wechseln konnte, was das komplette Bühnengeschehen eingestellt hätte.
  • fand das Reeper-Bahn in kleiner Ausführung mit meist bestuhlten Konzerten, einem digitalen CheckIn-/ CheckOut-System sowie digitalem Konferenzprogramm statt.
Wie bei den meisten Veranstaltungen mit Hygienebedingungen ließen sich auch hier keine Infektionen nachweisen. Entsprechend forderten die beteiligten Veranstalter*innen eine Differenzierung bei coronabedingten Verboten. Damit diese wichtigen Forderungen und Inhalte in Politik und Wissenschaft Gehör finden und auch deren Position und Grundlagen für die aktuellen Maßnahmen besser verständlich werden, wäre eine Erweiterung der Diskussionsrunde um entsprechende Akteur*innen wünschenswert gewesen.

Weitere Wege aus der Krise

Alle Hilfemaßnahmen und alternativen Veranstaltungskonzepte können der Branche nur dann auf lange Sicht helfen, wenn die Klimabedingungen und Ressourcen dies auch in Zukunft zulassen. So darf der Umgang der Musik- und Veranstaltungswirtschaft und deren Verantwortung gegenüber der Klimakrise jetzt nicht in den Hintergrund rücken. Denn: Keine Musik auf einem kaputten Planeten. Dieses Credo hat sich die Klimabewegung Music Declares Emergency (MDE) auf die Fahnen geschrieben, die seit Mitte Oktober auch einen Ableger in Deutschland hat. "Togetherness" spielt hierbei eine wichtige Rolle: So brauchen die Initiator*innen der Kampagne die große Reichweite der Künstler*innen zum einen, "um Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu adressieren". Zum anderen müssen die Musikschaffenden selbst dazu beitragen, die Musikbranche klimafreundlicher und damit zukunftsfähiger zu machen. Fine Stammnitz und Tine Theurich von MDE Germany ermutigten deshalb zum Mitmachen: "Habt bitte keine Skrupel, die Declaration zu unterschreiben, auch wenn ihr in den vergangenen Jahren eher klimaschädlich auf Tourneen oder Festivals unterwegs wart. Niemand ist fehlerfrei, aber ihr könnt das Zukunft besser machen." Künstler*innen seien dabei etwa gefordert, sich ihres Einflusses bewusst zu werden und ihre Reichweite zu nutzen, um den Klimanotstand gegenüber ihren Fans zu kommunizieren, das damit verbundene Bewusstsein zu schärfen und sie ebenfalls zum Mitmachen zu ermutigen. Aber auch Unternehmen wie Labels, Verlage oder Festivals müssen hierbei entsprechende Stellschrauben drehen: "Beziehe für dein Büro echten Ökostrom nach Standard des Grüner Strom Labels - also solchen, der zu 100% aus erneuerbaren Energiequellen kommt (oder erzeuge deinen eigenen) und ermutige deine Mitarbeiter*innen, Künstler*innen und Partner*innen, dasselbe zu tun", heißt es beispielsweise dazu in den konkreten Handlungsanweisungen der Bewegung. Diese hat sie für die verschiedenen Akteur*innen der Branche auf ihrer Homepage aufgelistet, wobei insbesondere deutlich wird, dass das Thema ALLE etwas angeht.

Worauf insbesondere die Clubszene achten kann, stellte Konstanze Meyer vor, Projektleiterin CLUBTOPIA des clubliebe e. V.. Dieses Projekt will "Expert*innen der Nacht & Nachhaltigkeit vernetzen und zum konkreten klimafreundlichen Handeln im Club- und Veranstaltungsbetrieb motivieren". Neben der Vermeidung von Müll sei eine weitere wichtige Stellschraube die Greenmobility: Wie kommen die Gäste und die Acts zum Club? Und wie nachhaltig ist die eigene Logistik?

Doch klimaneutrales Handeln endet nicht vor der Clubtür - so machte Meyer auch auf die Vorbildfunktion aufmerksam: "Clubs können hier mit gutem Beispiel vorangehen und auch ihre Gäste dazu anregen, nachhaltiger zu handeln. Konkrete Handlungsanweisungen zu den Themen Mobilität, Strom und Heizung, Zero Waste und Putzen, Kommunikation, Beratung & Förderung, Toiletten, Bar sowie Licht und Lüftung finden Interessierte sowohl auf der Webseite CLUBTOPIAS als auch im Green Club Guide.

Fazit

Probleme zusammen und interdisziplinär anzugehen war eine der wichtigsten Forderungen, die in mehreren Panels der MWM20 laut wurde. Ein großes Lob kann dabei der Konferenz selbst ausgesprochen werden: Gemäß ihrem Anspruch der "Togetherness" hat sie in verschiedenen Panels Entscheider*innen mit Kreativen zusammengebracht. Besonders herauszustellen ist dabei erneut der "Salon #Zukunftsmusik", durch den wie im letzten Jahr junge Musiker*innen mit Entscheider*innen zusammen- und ins Gespräch kamen. Letzteres fand dabei vor allem durch die empathische Moderation Frank Sonders (7R3NK) auf Augenhöhe statt. Darüber hinaus konnte auch das Publikum über die Chatfunktionen der digitalen Tagungsplattform mit den verschiedenen Akteur*innen in Kontakt treten.

Es bleibt zu hoffen, dass die Beschäftigung mit der Corona-Krise nicht andere wichtige Aufgaben in den Hintergrund rückt. So wurden Themen wie faire Verteilung und Transparenz an Streamingeinnahmen bereits im letzten Jahr in ähnlicher Form aufgegriffen. Das zeigt zum einen, dass MW:M20 hierbei langfristig agiert und Themen nicht abhakt, sobald sie einmal besprochen wurden. Zum anderen macht es aber auch deutlich, dass das Erarbeiten von Lösungen Zeit braucht - insbesondere wenn hierbei mehrere Akteur*innen zusammenwirken müssen. Was davon also 2021 angegangen wird, wird die Zukunft zeigen - und nicht zuletzt hoffentlich auch die MW:M21.

Wer sich bis dahin selbst in einige Themen denken möchte, findet das komplette Tagungsprogramm aufgezeichnet und kostenfrei auf YouTube.
 
Weitere Impressionen der MW:M20

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