06.05.2024

Buchdetails

Systemkritik!: Essays für eine Kulturpolitik der Transformation
von Svenja Reiner, Simon Sievers, Henning Mohr (Hgs.)
Verlag: Transcript
Seiten: 240
 

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Autor*in

Jasmin Meinold
studierte Kunstwissenschaft und Geschichte in Braunschweig. Sie arbeitet als Projektmanagerin, Kuratorin und Kunstvermittlerin, und war für Museen und Kunstvereine in ganz Deutschland tätig. Mit Fine Arts Institute Leipzig (FAIL) erforscht sie Kunst als sozial engagierte Praxis in nicht-traditionellen Kunsträumen wie dem Dorf, dem Gefängnis und dem Einkaufszentrum.
Buchrezension

Systemkritik! Essays für eine Kulturpolitik der Transformationen

Die Krise der Kulturbranche, die sich in veränderten Publikumsinteressen und Kritik an veralteten Strukturen, Führungsstilen und mangelnder Diversität zeigt, besteht nicht erst seit der Corona-Pandemie. Der Band bietet einen Überblick der Diskussion und versammelt Forderungen und Vorschläge für eine Reform.
 
Krisen, wohin das Auge reicht 
 
Seit Jahren befindet sich der Kulturbetrieb im Krisenmodus. Neben der Frage der Finanzierung von staatlichen und freien Kulturangeboten bestimmen vor allem zwei Typen von Krisen die Kulturinstitutionen: Funktionskrisen (kann eine Institution ihren Zweck erfüllen?) und Legitimationskrisen (Missbrauch von Macht, diskriminierende oder undemokratische Strukturen). Die Vermischung diverser Formen von Missständen führen zu komplexen Situationen, die grundlegender Veränderung bedürfen. Die Kritik an veralteten bis hin zu missbräuchlichen Führungsstilen, an Förderpolitiken, dem Publikumsrückgang auf der einen, Eventisierung auf der anderen Seite, die Frage nach Repräsentation, dem zu viel an bürokratischen Verwaltungsstrukturen, etc. stellt vermeintliche Sicherheiten und etablierte Praktiken in Frage und erfordert eine umfangreiche Transformation des Sektors. 
 
Die Corona-Pandemie wirkte ab März 2020 als Brandbeschleuniger bereits existierender Probleme, denen auch die kulturpolitischen Sonderförderprogramme nur bedingt etwas entgegensetzen konnten. Die Schließung kultureller Räume und die flächendeckende Absage von Veranstaltungen führten zu einer größeren Sichtbarkeit von strukturellen Missständen sowie oftmals prekären Beschäftigungsverhältnissen und ließen die Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz der Kultur (wessen Kultur?), ihren Produktionsbedingungen und Selbstverständnissen zu neuen Höhen auflodern. Diese Debatten betreffen auch den Verantwortungsbereich der Kulturpolitik und die von ihr finanzierten Organisationen und Projekte.
 
Reboot system
 
Was benötigt der Kulturbereich in Deutschland (von der Kulturpolitik) für einen wirklichen Neustart nach der Pandemie und wie könnte dieser aussehen? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt für den Sammelband "Systemkritik", herausgegeben von Svenja Reiner, Simon Sievers und Henning Mohr bei transcript 2023. Akteur*innen aus verschiedenen kulturellen Sparten und Rollenzusammenhängen, darunter Künstler*innen, Theoretiker*innen und Menschen aus der Kulturpolitik, teilen in 36 Beiträgen Perspektiven, Forderungen nach einer systemisch wirksamen Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik und Vorschläge für eine gerechtere, inklusive, diskriminierungsfreie, kompetentere Zukunft der Kulturbranche. Der Begriff Kulturpolitik wird dabei zum einen auf die konkrete Politik, ihre Verantwortung und Handlungsspielräume angewendet, aber auch auf Strukturen, Konzepte und Handlungsweisen innerhalb von Institutionen und freier Szene sowie deren gesellschaftliches Wirken im Sinne von kultureller Praxis als (gesellschafts-)politischer Praxis.
 
Die Texte erschienen während der Pandemie ab 2021 auf dem Blog der Kulturpolitischen Gesellschaft unter #neuerelevanz und sind dort weiterhin abrufbar. Die Auswahl für die Publikation erfolgte durch die Herausgeber*innen. Gruppiert sind die Beiträge in drei thematischen Kapiteln, die im Folgenden kurz skizziert werden.
 
Kulturpolitik + Kulturverwaltung 2.0 
 
Der erste Schwerpunkt vereint Beiträge, die sich mit der Verantwortung der Kulturpolitik in puncto Transformationsfragen beschäftigen. Hier wird diskutiert, warum es der Kulturbranche so schwerfällt, sich aus sich selbst heraus strukturell weiterzuentwickeln und auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren.
 
Als Hemmnis identifizieren mehrere Autor*innen die Widerstände einer konservativen Führungsebene in den Kulturinstitutionen, die darauf beruhen, dass strukturelle Veränderungen mit einer Neuverteilung von Macht, Kontrolle, Status und Deutungshoheit einhergehen würden. Henning Mohr fordert deshalb eine "Strukturoffensive für Transformation". Er sieht dabei die kulturpolitischen Instanzen zum einen in der Verantwortung, Transformationsprozesse einzufordern, zu begleiten und vor allem dauerhaft geförderte Institutionen stärker in die Pflicht zu nehmen, damit diese ihrem Auftrag "Kultur für alle" gerecht werden. Zum anderen sollte die Kulturpolitik Maßnahmen zur Stärkung des Cultural Leaderships vorgeben - bisher existieren keine staatlich geförderten Fortbildungen von Führungskräften im Bereich transformationsorientiertes Kulturmanagement, obwohl die Führungspersonen meist vor allem gemäß eines Fachkanons, aber nicht hinsichtlich Leadership ausgebildet sind. Hinzukommt die Forderung nach einer Kulturproduktion, die stärker aus der Vermittlungsperspektive entwickelt wird. In diesen kulturpolitischen Verantwortungsbereich fällt auch die geforderte institutionelle Verankerung anti-diskriminierender Praktiken (Mithu Sanyal, Melmun Bajarcchu & Mona Louisa-Melinka Hempel).
 
Ein wesentliches Instrument einer solchen Strukturoffensive bildet die Anpassung der Kulturförderung. Es braucht eine systematische Förderung der Weiterentwicklung organisationaler Strukturen mit prüfbaren Zielvorgaben (Stichworte nachhaltige Prozesse, Digitalisierung, neues Methodenwissen und Kompetenzen etc.) sowie eine Überprüfung der Projektförderlogik sowohl hinsichtlich inhaltlicher Schwerpunktsetzungen als auch der ungleichen Effekte auf die Arbeit von Institutionen und freier Szene (Fatima Çalışkan & Johanna-Yasirra Kluhs, Kurt Eichler). Zu mehr Verteilungsgerechtigkeit könnten z. B. eine Festbetragsfinanzierung, verlässliche mehrjährige Förderungen oder die Vereinfachung der Verwaltungsvorgaben für Fördergelder beitragen. Durch eine finanzielle Stärkung kommunaler Kulturverwaltungen ("Pflichtaufgabe Kultur") könnten diese als Moderator*innen den Wandel lokal begleiten (Anica Happich & Jakob Arnold, Susanne Keuchel). 
 
Relevanz-Rhetorik und Kulturbegriffe
 
Der zweite Teil legt den Fokus auf Deutungshoheit und Diskriminierungsdimension: Wessen "Kultur" war gemeint, als während der Pandemie von "Systemrelevanz" gesprochen wurde? Wo wird in öffentlichen Debatten, in kulturpolitischen Diskursen und von Institutionen selbst ein normativer Kultur- bzw. Kunstbegriff verwendet und wie prägt dieser das Selbstverständnis und Handeln? 
 
Der Beitrag von Şeyda Kurt erinnert hier beispielhaft an den erheblichen, kulturpolitisch gebilligten finanziellen Mehraufwand, mit dem das Humboldt Forum - das von vielen als Symbol einer Fortführung kolonialer Kontinuitäten und weißem Vorherrschaftsdenken verstanden wird - trotz massiver Infektionsschutzauflagen während der Pandemie eröffnet wurde, während sich zugleich die prekäre Lage der freien, alternativen, teils marginalisierten Kulturszene verschärfte. Christina Dongwoski skizziert, dass vor allem gut finanzierte Traditionsbetriebe an Kunst- und Kulturbegriffen (und Strukturen) des letzten Jahrhunderts festhalten, während neue Impulse und Innovationen häufig von der freien Szene ausgehen, die sich im Rahmen der Projektförderlogik stetig neu erfinden, mit gesellschaftlichen Themen befassen und kontinuierlich ihre Existenzberechtigung behaupten muss.
 
Die Deutungshoheit für das, was als Kultur verstanden wird, darf laut den Autor*innen dieses Kapitels nicht weiterhin bei meist privilegierten Menschen (weiß, bürgerlich, akademisiert, nicht-behindert, zumeist männlich) liegen - die vermeintliche Singularität von queeren, behinderten, BIPoC-Perspektiven etc. muss ebenso überwunden werden wie die Produktionsbedingungen, die mehrheitlich auf alleinstehende, flexible, junge und kinderlose Künstler*innen ausgerichtet sind (Donat Blum, Katrin Bittl, Sandra Gugić). Eine machtkritische Kulturpolitik muss demnach sensibel sein gegenüber diversitätsmindernden Ausschlüssen und sich aktiv darum bemühen, diese abzubauen. Das gilt auch auf der Ebene von Förderauflagen, zum Beispiel in Form von Quoten, in der Besetzung von Jurys und der Konzeption von Förderprogrammen und Stipendien. In das Spektrum kulturpolitischer Aufgaben gehören zudem die Ermöglichung inklusiver Räume, politische Bildung sowie die Auseinandersetzung mit den "Arbeits-, Denk und Gestaltungsräumen der Digitalität".
 
Macht und Teilhabe
 
Was passiert, wenn man "Programm machen" und "Institution machen" nicht als zwei verschiedene Aufgabenbereiche begreift, sondern als gemeinsame Tätigkeiten in der Gestaltung von Produktionszusammenhängen, als kollaborative Praxis? Wie lassen sich dadurch verkrustete Hierarchien und Rollen auflösen? Ein Vorschlag von Fadrina Arpagaus: Die Kulturinstitution wird zum "Werk-in-progress". Werden Institutionen von sich selbst und der Kulturpolitik nicht (mehr) über starre, vermeintlich in Stein gemeißelte Strukturen und Genie-Narrationen definiert, sondern über die Praxis aller an ihr beteiligter Akteur*innen, befinden sie sich qua dessen in einem stetigen Prozess des Wandels und der Anpassung.
 
Neben diesen Gedanken zur Auflösung starrer Strukturen versammelt der dritte Teil des Buches Essays, die sich mit der unzureichenden qualitativen Forschungslage über die (diskriminierenden) Strukturen und Wirkung des Kulturbetriebs befassen sowie Überlegungen aufmachen, wie neue Formen des Datensammelns und der Evaluierung sowie eine sinnvolle Implementierung digitaler Technologien - nämlich als fortlaufende künstlerisch-kreative und nicht nur einmalige technische Herausforderung - aussehen könnten. Ein Ansatz dafür ist die intersektionale Datenerhebung, die Vertreter*innen diskriminierter Gruppen an der Datenerhebung, -analyse und -verbreitung beteiligt und Aspekte wie die Mehrfachnennung von Identität, Diskriminierungsgründe und Fremdzuschreibungen berücksichtigt (Joshua Kwesi Aikins et al.). 
 
Transformers unite!
 
Einige Texte lesen sich im Jahr 2024 schon wie historische Dokumente, da sie aus der unmittelbaren Erfahrung des Lockdowns entstanden sind, aus dem akuten Notstand, und die Hoffnungen nach einer unmittelbaren und drastischen Veränderung nach der Corona-Pandemie ausdrücken. Die Revolution ist jedoch noch nicht eingetreten - vielmehr war in den meisten Institutionen nach Ende der Pandemie ein Backlash, ein Zurück zu über Jahrzehnte etablierten Alltagsroutinen und Pfaden zu beobachten, ein Widerstand gegen Veränderung (was die Autor*innen mehrfach an bestehenden Macht-Asymmetrien festmachen). Als Fazit der Lektüre lässt sich sagen, dass Transformation offenbar nur bedingt aus den Institutionen selbst heraus erwachsen kann (in denen aber ein wichtiger Motor liegt), sondern von der Kulturpolitik eingefordert, moderiert, und begleitet werden muss. Diese muss sich aktiv damit auseinandersetzen, wie elitäre Selbstgerechtigkeit, Kapitalismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und andere Diskriminierungsstrukturen in der Kulturbranche zusammenwirken und aufgelöst werden können - eine Aufgabe, an der alle Akteur*innen gemeinsam zusammen wirken müssen.
 
Für wen eignet sich das Buch?
 
Für Leser*innen, die sich noch nicht intensiv mit den strukturellen Missständen im Kulturbetrieb beschäftigt haben, bietet der Band einen vielseitigen Überblick in die Komplexität des Veränderungsbedarfs im Kulturbereich. Aufgrund der Kürze der Beiträge eignet sich das Buch zum Stöbern und interessengeleiteten Querlesen. Es ist dabei nicht notwendig, alle Beiträge zu lesen, um ein umfassendes Bild vom Stand der Diskussion zu erhalten, da viele Texte bei allgemeinen Beschreibungen eines Status Quos und bei Forderungen verbleiben, die seit Jahren an vielen Stellen geäußert werden. Überzeugend ist die Zusammenstellung in der Vielfalt der Schreibstile und der Stimmen. Sie umfasst auch zahlreiche Beträge aus Perspektive marginalisierter Akteur*innen, die in bestehenden Systemen oft mehrfache Diskriminierung erfahren - und die deutlich machen, dass die strukturellen Probleme nicht nur einen bestimmten Teil der Branche betreffen.
 
Für alle, die schon tiefer im Thema stecken, sind diejenigen Beiträge besonders interessant, die in ihrer Kritik detailreich-sezierend vorgehen oder in denen handlungsorientierte Maßnahmen und Vorschläge zu Veränderungen und ihrer Implementierung gemacht werden (siehe Jessica S. Weisskirchen, Sebastian Quack, Melmun Bajarcchu & Mona Louisa-Melinka Hempel, Frederika Landau-Donnelly & Cesy Leonard). Diese umfassen sowohl Forderungen an die Kulturpolitik, vor allem aber auch Forderungen und konkrete Handlungsvorschläge, um Wandel in den Institutionen zu befördern. An diesen Stellen wird es produktiv, hier kann man Ideen für die eigene Praxis und als Diskussionsgrundlagen mitnehmen, die über stating-the-obvious hinausgehen. 
 
Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Theater, dem sich mehrere Beiträge widmen. Insgesamt sind mit Inhalten zu Literaturbetrieb, Theater, bildender und darstellender Kunst sowie Gaming zwar unterschiedliche Kultursparten abgedeckt. Als Leserin hätte ich mir aber auch Einblicke in den Diskurs in Orchestern und anderen Teilen der Musikbranche, der institutionellen und freien Tanzszene oder soziokulturellen Zentren gewünscht, die kaum Erwähnung finden.
 
Für (zukünftige) Kulturmanger*innen ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Umsetzung von und Verantwortung für Diversität, Teilhabe, Publikumsansprache und Finanzierung absolut notwendig, um gesellschaftlich relevante Arbeit zu leisten und die Kulturbranche mit ihren unterschiedlichen Institutionen und Feldern zukunftsfähig mitzugestalten.

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