29.01.2021

Themenreihe Corona

Autor*in

Jens Michow
ist seit 1985 Präsident und Geschäftsführer des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft (bdv) e.V. Als Experte der Live Entertainment-Branche wird er regelmäßig von Ausschüssen des  Bundestages zu Anhörungen geladen. Seit 2010 ist er Dozent für den Bereich Recht des Masterstudiengangs Kultur- und Musikmanagement an der Hochschule für Musik und Theater in München. Darüber hinaus ist er Autor diverser Veröffentlichungen zu einschlägigen Rechtsfragen.
Marten Pauls
hat mehr als 25 Jahre Berufserfahrung in der Organisation von Großveranstaltungen und in der Geschäftsführung verschiedener Unternehmen. Er ist Inhaber und Geschäftsführer der Marten Pauls Beratung GmbH & Co. KG. Zu dieser gehört die eingetragenen Marke campo mit den drei Geschäftsfeldern event engineering, consulting und education. Weiterhin ist Pauls als Referent mit eigenen Seminarangeboten und als Dozent für verschiedene Bildungseinrichtungen tätig.
Zukunft der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft

Ein Blick in die Glaskugel

So notwendig jede Verlängerung des Lockdowns auch ist: Für den Kulturbetrieb bedeutet das weitere Ungewissheit, für manche Wirtschaftszweige sogar ein immer bedrohlicheres Bangen um die Existenz. Welche Prognosen sich dabei für die Zukunft der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft stellen lassen, erläutern Prof. Jens Michow und Martens Pauls in ihrem Kommentar.

Themenreihe Corona

Über die Lage der Veranstaltungswirtschaft in der Corona-Krise zu referieren - das können wir uns ersparen. Alle, die sich mit dem Wirtschaftszweig beschäftigen oder sich auch nur dafür interessieren, wissen, dass dieser zu einer der am schwersten betroffenen Branchen des Landes gehört. Die Akteur*innen haben seit Mitte März keine Einnahmen. Selbst kleinste Gehversuche, um hier und dort unter Wahrung der Abstandsregeln in Häusern mit vielleicht bis zu 3000 Plätzen 750 Zuschauer*innen unterzubringen, müssen gerade wieder aufgrund des aktuellen Lockdowns abgesagt werden.

Der Erhalt angemessener Hilfen, die die Branche vor dem drohenden Untergang retten könnten, gestaltet sich schwierig. Die Mühlen der Politik mahlen langsam und es ist mühselig, auf konkrete Fragen konkrete Antworten - geschweige denn Reaktionen - zu erhalten. Derweil sich die Mehrheit der Branche immer mehr dem totalen wirtschaftlichen Kollaps nähert, überlegt der*die ein*e oder andere, ob, und wie es überhaupt weitergehen kann. Greifbare Perspektiven sind allerdings nicht in Sicht.

Die Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Veranstaltungswirtschaft gleicht daher dem Blick in die Glaskugel. Zuverlässige Antworten kann derzeit niemand geben. Wir möchten dennoch diesen Blick vornehmen - möchte es wagen, auf dieser vagen Grundlage eine - unsere - Prognose über die Zukunft unseres einst prosperierenden Wirtschaftszweigs zu stellen. Wir haben uns dazu Gedanken darüber gemacht, wie eine Perspektive der Veranstaltungsbranche kurzfristig, mittelfristig und langfristig aussehen könnte.
Phase 1 - Kurzfristig: Überleben sichern

Sie wird aus unserer Sicht von jetzt ab noch 12 bis 18 Monate, also im Worst Case bis zum 1. Quartal 2022 dauern. Sie wird geprägt sein von Unberechenbarkeit und Lockdowns. Dabei können - wenn es gut geht - kleinere Konzerte und mittel- und langfristige inländische Veranstaltungs- und Tournee- planungen zugelassen werden. Aufgrund der föderalen Strukturen wird es in Deutschland allerdings in dieser Phase schwierig, international sogar unmöglich sein, Tourneen zu veranstalten. Die Branche wird um Hilfsprogramme und staatliche Ausfallbürgschaften kämpfen müssen, um Liquidität für das Überleben der Unternehmen und den Erhalt von Arbeitsplätzen zu sichern.

Diese Phase wird erst dann enden:
 
  • wenn die Bevölkerung durch Impfprogramme einen hohen Grad an Immunität erreicht hat,
  • wenn die Politik das verbleibende Restrisiko für Infektionen als "vertretbares Restrisiko" definiert und
  • wenn Lockerungen der Restriktionen nachhaltig vorgenommen werden können.

Phase 2 - Mittelfristig: Wiederaufbau nach über- standener Krise

Sie wird in der 1. Hälfte 2022 beginnen und damit nach dem Ende von Phase 1 weitere 12 bis 24 Monate dauern. Damit wären wir im Worst Case im 3. bzw. 4. Quartal 2023. Diese Phase wird geprägt sein von nachhaltigen und verlässlichen Lockerungen und dem Versuch, die national und international feingliedrig verzahnte Veranstaltungswirtschaft wieder auf volle Touren zu bringen. Veranstaltungen werden zu Beginn dieser Phase noch unwirtschaftlich sein und es werden Hilfsprogramme zum Wiederanfahren notwendig sein (Bürgschaften für Ausfälle, Finanzhilfen). Mit zunehmender Dauer wird sich allerdings auch die Wirtschaftlichkeit von Veranstaltungen wiedereinstellen - wohlgemerkt irgendwann zwischen 2023 und 2024.

Voraussetzungen für den erfolgreichen Wiederaufbau werden u.a. sein, dass:
 
  • es durch verlässliche Regelungen zu Kapazitäten und Veranstaltungsbedingungen einen Fahrplan mit dem Ziel gibt, am Ende der Entwicklung wieder 100Prozent der Spielstätten-Kapazität zu nutzen,
  • es bundesweit einheitliche Vorschriften zu Kapazitäten und Veranstaltungsbedingungen - also eine Harmonisierung - gibt,
  • es international vergleichbare stabilisierende Entwicklungen gibt, zumindest in den für den deutschen Veranstaltungsmarkt relevanten Content-Herkunftsmärkten der EU-Staaten und den USA, und
  • sich die bis dahin aufgrund von Nachholbedarf und Anfragen völlig durcheinander geratenen Tourneekalender der Künstler*innen wieder stabilisieren.

Diese Phase wird aber erst dann enden, wenn es international zumindest in den relevanten Content-Herkunfts- und -zielmärkten vergleichbare, stabile und verlässliche Bedingungen gibt.

Phase 3 - Langfristig: Erfolgreiche Fortsetzung des Wachstumspfades und der Erweiterung der Geschäftsfelder

Sie beginnt mit Ende Phase 2, also irgendwann in der zweiten Jahreshälfte von 2023. Live-Entertainment wird nach der Krise stärker sein als jemals zuvor. Warum?

1. Soziale Aspekte: Die Menschen sehnen sich zurück nach sozialen Kontakten und ihrem "alten Leben", wenngleich sich viele von ihnen auch nachüberstandener Krise wohl in wirtschaftlich und/oder sozial schwierigen Situationen befinden. Gründe dafür werden sein:

  • Abbau von Arbeitsplätzen nach Beendigung des Kurzarbeitergeldes
  • Firmeninsolvenzen nach dem Beenden der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht

Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, passen in diese Situation Unterhaltung und kurzweilige Ablenkung bestens hinein und werden eine starke Nachfrage erleben. Ein in Teilen verändertes Verbraucherverhalten wird dabei neue Formate erforderlich machen.

2. Sicherheit der Spielstätten: Der Markt wird außerdem wachsen, weil Spielstätten sicherer sein werden: Wie bereits beim Thema "Terror" werden auch in einer idealen Welt ohne Corona Behörden und Konsument*innen besondere neue Anforderungen stellen -möglicherweise aufgrund "gefühlter Sicherheit". Es wird daher höhere Anforderungen an das Hygienemanagement in Spielstätten geben. Desinfektionsspender, Vermeidung unnötiger Warteschlangen, Beschleunigung von Abläufen werden selbstverständlich sein. Ebenso wird es höhere Anforderungen an das Raumluftmanagement in Spielstätten geben. Und auch die Ansprüche an die operative Kompetenz von Veranstalter*innen und Dienstleister*innen im Bereich von Infektionsschutz und Hygienemanagement werden erheblich steigen. Daraus werden allerdings auch höhere Spielstätten- und Produktionskosten folgen.

3. Gesunkene Content-Kosten: Die Frage, ob nach Rückkehr in ‚normale Zeiten‘ Künstlerhonorare sinken oder steigen werden, ist in der Branche umstritten. Wir persönlich rechnen eher mit sinkenden Honorarforderungen. Im Gegenzug werden Veranstalter*innen jedoch von gesunkenen Honorarforderungen und Produktionskosten profitieren: Viele Künstler*innen werden wirtschaftlich gezwungen sein, zum Erwerb ihres Lebensunterhalts so viel wie möglich live aufzutreten. Damit wird es einerseits ein hohes Angebot geben, zum anderen werden gegebenenfalls niedrigere Gagen einen Teil der höheren Kosten für die Produktion kompensieren. Die großen Live-Netzwerke haben bekanntermaßen bereits Memoranden mit dem Ziel veröffentlicht, Künstlergagen und verbundene Agentur- und Vermittlungskosten sowie den Einfluss von Künstler*innen, Booking und Management auf Preisgestaltung und andere Aspekte des Tourneebetriebs massiv zu senken. Die Content-Kosten werden also im Vergleich zu vor der Krise erheblich sinken.

Gleiches gilt für die Forderungen der Veranstaltungsdienstleister*innen: Produktionsdienstleister*innen leiden neben den Künstler*innen am stärksten unter der Krise. Eine Schwäche oder der Zusammenbruch dieses Marktes könnte für den Neustart von Veranstaltungsunternehmen nach der Krise das größte Problem sein. Veranstalter*innen sind schlechte Rigger*innen und ihre Qualifikation besteht nicht im Soundmix oder Bühnenbau. Eine erfolgsversprechende Strategie für die Schaffung größerer Netzwerke könnte die (Re-)Integration von Produktionsbetrieben in die Wertschöpfungsketten durch Beteiligungen oder direktes Employment sein. Veranstalter*innen können also auf eine höhere Wertschöpfungstiefe hoffen.

4. Konsolidierung und Entwicklung des Marktes: Weiterhin wird Live Entertainment stärker sein als zuvor, da sich der Veranstaltungsmarkt bis dahin konsolidieren und entwickeln wird. Hier gilt die Binsenweisheit: Wer die Krise liquiditätsmäßig überlebt hat, wird stärker aus ihr hervorgehen, als er hineingegangen ist. Die bereits starke Konsolidierung des Live- Marktes zu großen Netzwerkeinheiten (Live Nation, Eventim, DEAG) wird sich nachhaltig - je nach Finanzkraft - fortsetzen und die bereits starken Player noch stärker machen. Neue Talente und Künstlergruppen werden sich zunehmend über Soziale Medien selbst etablieren. Sie werden ihre ersten Tourneen im direkten Deal mit den Spielstätten durchführen. Irgendwann werden sie dann, sobald sie bereits messbar eine Zielgruppe etabliert haben, von den "Big Players" eingekauft werden. Örtliche Veranstalter*innen, ohnehin ein Eigengewächs des deutschsprachigen Marktes, werden weiter stark zunehmend an Bedeutung verlieren, in einigen Segmenten und Genres stärker als in anderen. Ähnliches wird wohl leider auch auf Vermittler*innen zutreffen. Dennoch wird sich ein ernst zu nehmendes "Independent-Netzwerk" von unabhängigen Veranstalter*innen, die u.a. aus örtlichen Veranstalter*innen hervorgehen, in jedem Land als natürlicher Gegenpol etablieren können. Diese werden aber eben auch zusammenarbeiten müssen, um im eigenen Markt geschlossene Tournee- und Produktionssysteme anbieten zu können. Eine geringere Vielfalt und eine geringere Individualität im Agenturmarkt werden die Folge sein.

5. Neue Technologien: Schließlich wird es neue Technologien geben: Digitale Strategien werden den Veranstaltungsmarkt der Zukunft prägen. So werden viele Veranstaltungen zukünftig mindestens aus der "Live plus Digital"-Perspektive gedacht werden (Livestreams von Konzerten werden ein Zusatznutzen sein). Zudem wird auch Live zukünftig aus der "Digital Only"- Perspektive gedacht (z.B. Auftritte von DJs in virtuellen Spiele-Plattformen). Daraus entsteht die Möglichkeit, auch aus der "Digital plus Live"-Perspektive zu denken, d.h. die Liveshow zu einem limitierten Add-On zur digitalen Veranstaltung zu machen.

Spannend wird sein, welche Rolle Netflix, Amazon, Spotify & Co. in dieser neuen Wertschöpfungskette spielen werden. Amazon hat gerade in den USA eine Kinokette gekauft, zu der in Deutschland die UCI-Kinos gehören. Eine Disruption der klassischen Veranstalterstrukturen ist hierbei zu erwarten.

Fazit

Von heute an ist mit einer "vollständigen Wiederherstellung" des Live-Betriebs in frühestens 24 Monaten, möglichweise aber auch erst in 42 Monaten zu rechnen (2 bis 3,5 Jahre). "Vollständige Herstellung" steht hier in Anführungsstrichen, weil der Markt und die Anbieter*innen sich verändert haben werden. Die Schwankungsbreite von 2 bis 3,5 Jahren wird von der pandemischen Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern der internationalen Entwicklung abhängig sein. Business as usual - also Live Entertainment, wie wir es noch im Januar/Februar dieses Jahres kannten - wird es in dieser Form wohl nicht mehr geben.

Das Format wird sich ändern. Das bedeutet aber nicht, dass es an Attraktivität abnehmen wird. Es wird anders sein, voraussichtlich wird es auch nicht mehr die aktuelle Anzahl von Anbieter*innen geben. Und wir fürchten leider auch, dass die so liebgewonnene Vielfalt des musikalischen Angebots im bisherigen Umfang so nach dem Ende der Krise nicht mehr existieren wird.

Diese Perspektive klingt allerdings trauriger als sie ist - jedes Ende ist auch ein neuer Anfang. Wir sollten daher überlegen, ob unsere Gesellschaft diesen nicht vielleicht auch dringend braucht.
 
 
Dieser Artikel erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Gestern, Heute Morgen" und basiert auf der Keynote, die Prof. Jens Michow im Rahmen des Panels "Live will survive - but how?" am 5. November 2020 bei Most Wanted: Music 2020 gehalten hat, die uns die Autoren freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.

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