16.02.2022

Buchdetails

Das Konzertpublikum der Zukunft: Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft
von Irena Müller-Brozovic, Barbara Balba Weber
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 232
 

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Autor*in

Martina Elmer
studierte Angewandte Musikwissenschaft/Klarinette, BWL sowie Musik- und Kulturmanagement in Klagenfurt, Mexiko City und München und ist Alumna der Akademie Musiktheater heute. Derzeit ist sie als Konzertreferentin der Salzburger Festspiele tätig und war zudem von 2018-2021 für die Neuausrichtung des Kinder- und Jugendprogramms jung&jede*r verantwortlich.

Buchrezension

Das Konzertpublikum der Zukunft - Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft

Wer ist das Konzertpublikum der Zukunft und wie erreicht man es? Dieser Sammelband fasst den praxisbezogenen und wissenschaftlichen Diskurs aus der Sicht der Musikvermittlung zusammen und liefert neue Denk- und Lösungsansätze.
 
Im 2. Band der Publikationsreihe "Forum Musikvermittlung", erschienen 2021 bei transcript, stehen das zukünftige Konzertpublikum und dessen Möglichkeiten der Teilhabe am Klassischen Konzertbetrieb im Fokus. Basierend auf den Beiträgen des titelgebenden Symposiums, das noch vor den ersten Anzeichen der Covid-19 Pandemie 2019 an der Hochschule der Künste Bern veranstaltet wurde, fassen die Herausgeberinnen Irena Müller-Brozovic und Barbara Balba Weber Best Practice Beispiele und Forschungsbeiträge der Musikvermittlung zusammen. Diese sollen impulsgebend für die Erschließung des zukünftigen Publikums sein.

Der (un)sterbliche Konzertbetrieb?
 
Ausgangspunkt des Diskurses ist wieder einmal die Prämisse, die Konzertpraxis sei überholt und dem Untergang geweiht. Der Hauptgrund hierfür liege in ihrer seit dem 19. Jahrhundert programmatisch beinahe unveränderten Form, gepaart mit einer strengen sozialen Etikette. Einen Neuigkeitswert hat diese Feststellung nicht, wenngleich der Konzertbetrieb in den letzten beiden von der Covid-19 Pandemie gezeichneten Jahren existenzbedrohend erfahren musste, was es bedeutet, ohne Livepublikum zu sein. Alle Akteur*innen des Konzertbetriebs - Musiker*innen, Ensembles, Orchester, Veranstalter*innen - sind nun mehr denn je gefordert, ihren gesellschaftlichen Stellenwert neu zu legitimieren.

Gesellschaftliche Teilhabe auf Augenhöhe
 
Der Konzertbetrieb wird deshalb in einer Zeit des Umbruchs verortet, in der es gilt, sich dem gesellschaftlichen Wandel dialoghaft zu stellen, um die Konzertkultur im Spagat zwischen Tradition und Innovation attraktiv für ein Konzertpublikum der Zukunft neu zu positionieren. Gefordert wird eine Neuausrichtung abseits des marketinggesteuerten Zielgruppendenkens, die sich am Leitgedanken der gesellschaftlichen Teilhabe orientiert. Dadurch wird eine ökonomisch getriebene Abgrenzung von Publikumsgruppen durch vereinfachte oder defizitäre Zuschreibungen vermieden, die den heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr entspricht. Diese Haltung erlaubt dem Konzertbetrieb in einen ergebnisoffenen Kommunikationsprozess mit seinem Umfeld zu treten. Die Aufforderung zur Teilhabe richtet sich sowohl an ein nicht näher definiertes potenzielles Publikum als auch an die Kulturinstitutionen selbst. Damit es auf beiden Seiten zu einer Öffnung und Durchmischung kommen kann, sind zunächst die Kulturbetriebe gefordert, ihr institutionelles und kulturelles Selbstverständnis in Frage zu stellen, um diese weit greifenden Veränderungsprozesse anzustoßen.  
 
Herausforderungen im Zeitalter der Digitalität und Nachhaltigkeit
 
Als die beiden größten globalen gesellschaftlichen Herausforderungen für den Konzertbetrieb identifiziert Susanne Keuchel Nachhaltigkeit und Digitalität. Übertragen auf die Konzertpraxis wird unter Nachhaltigkeit primär ein Handeln verstanden, das kulturelle Teilhabe ermöglicht. Eine Schnittmenge mit Digitalität ergibt sich durch digitale Konzert- und Vermittlungsformate, die einen niederschwelligen Zugang nach dem Motto "Kultur für alle" bieten und dazu beitragen, dass das Konzertpublikum von morgen ein Abbild der Gesellschaft wird. Dieser Gedankengang ist ebenso interessant wie der von Julia H. Schröder: Diese analysiert zunächst die emotionale Wirkung der gängigen Konzertpraxis auf das Publikum und hebt dabei den bloßen Akt des aktiven Musikhörens im Kontext des kollektiven Erlebens im Livekonzert als aktive Form der Teilhabe hervor. Daraus ließen sich Implikationen für digitale künstlerische Formate ableiten, die ein Nachdenken darüber anregen, was das Konzert für sein Publikum in Zukunft sein kann.

An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeberinnen den Forschungsbeiträgen Best Practice Beispiele von digitalen Konzert- und Vermittlungsformaten beigefügt hätten, die es auch in vorpandemischen Zeiten bereits gab. Nennenswert wäre hier beispielsweise das Konzerthaus Berlin mit dem 2018 entwickelten "Virtuellen Streichquartett". Diese in der App "Konzerthaus Berlin" abrufbare Augmented Reality Anwendung bringt Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" näher. 
Teilhabe erzeugt Nähe
 
Neben diesen wissenschaftlich fundierten Denkanstößen liefert die Publikation viele inspirierende - wenngleich Branchenkenner*innen längst bekannte - Praxisbeispiele. Diese zeigen, wie wechselseitige Teilhabe am Konzertbetrieb innerhalb unterschiedlicher sozialer Milieus ermöglicht und Nähe erzeugt werden kann:
  • Von altbewährten Partizipationsprojekten wie dem durch Schweizer Dörfer tourenden Musikwagen des Luzerner Sinfonieorchesters geht es über Formate wie
  • einem inszenierten Crossover-Abo-Konzert eines Berner Kammerensembles für Jung und Alt sowie
  • dem Stegreif.orchester, das programmatische und örtliche Grenzen zwischen Publikum und Interpret*innen sprengt bis hin zu
  • den Festivals Montforter Zwischentöne und ZeitRäume Basel, die durch orts- und kontextspezifisches Kuratieren in Interaktion mit ihrem Umfeld treten und sich ein neues Publikum erschließen. 
Diese Beispiele gipfeln in der am Theater Basel derzeit als "Public Foyer" realisierten Utopie vom Kulturbetrieb, der sich von seinem Dasein im Elfenbeinturm gänzlich befreit und als lebendiger Dreh- und Angelpunkt von Gesellschaft wahrgenommen wird.

Fazit
 
Zu Recht fordern die Herausgeberinnen einen Kultur- und Strukturwandel der Konzertpraxis als überlebensnotwendige Maßnahme für den lange totgesagten Konzertbetrieb. Ob dieser allein durch eine niederschwellige Öffnung und mehr Möglichkeiten der Teilhabe nach dem Gießkannenprinzip gelingen kann, darf hingegen bezweifelt werden. Der ökologisch und ökonomisch fragwürdige Tourneebetrieb vieler Orchester und Ensembles, starre Abosysteme oder von der Stange produzierte und eingekaufte künstlerische Programme wirken systemerhaltend für den personal- und kostenintensiven Konzertbetrieb.  Probezeiten werden im Korsett der Orchesterkollektivverträge auf ein Minimum reduziert und die künstlerischen Ergebnisse orts- und kontextunabhängig in den großen Konzertsälen für ein alterndes Abopublikum reproduziert. Diese Praxis erlaubt kaum Spielraum für künstlerische Experimente oder ergebnisoffene Vermittlungsformate, sichert aber bis dato den Fortbestand des institutionalisierten Konzertbetriebs und groß besetzter Gattungen wie der Symphonie. Darüber müsste sich längst eine Nachhaltigkeitsdebatte entfachen, wollte man sich ernsthaft dem Konzertpublikum der Zukunft und einer Weiterentwicklung der Kunstform widmen. Diese großen Themen werden aus Sicht der Musikvermittlung in der vorliegenden Publikation leider völlig ausgeblendet. Einzig Constanze Wimmer konstatiert, dass die wegweisenden Best Practice Beispiele vorwiegend in wendigen Think Tanks des Konzertbetriebs entstehen und nicht in den großen Konzerthäusern, deren Säle täglich mit Massen gefüllt werden wollen um die Auslastungserwartungen der Fördergeber zu erfüllen.

Eine konkrete Vision davon, wer das Publikum der Zukunft sein soll, bleiben die Herausgeberinnen  leider auch im letzten als Zukunftsvision überschriebenen Kapitel schuldig. Für die qualitätsvolle und breitenwirksame Entwicklung neuer Konzertformate scheint jedoch eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Publikum von heute und der Gesellschaft von morgen unabdingbar.
 
Dennoch sollten die vorgestellten Konzepte mehr als ein Denkanstoß für Konzertpädagog*innen und Musikvermittler*innen sein. Die Konsequenzen der Pandemie zeichnen sich bereits ab. Bevor sich das Livepublikum gänzlich vom Konzertbesuch entwöhnt, sind Kulturpolitik und Veranstalter*innen gleichermaßen gefordert, Experimentierfelder zu öffnen und mit Mut und Ergebnisoffenheit eine neue Ära des Konzertwesens einzuläuten.

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