24.10.2022

Themenreihe Digitale Formate

Autor*in

Sofia Unger
absolvierte ein Studium der europäischen Kunstgeschichte und studiert aktuell in Düsseldorf den Master Kunstvermittlung und Kulturmanagement, in welchem sie auch wissenschaftliche Hilfskraft war. Bis 2023 unterstützte sie den Landschaftsverband Rheinland in der Öffentlichkeitsarbeit für Kultur und sammelte praktische Erfahrungen in unterschiedlichen Kulturinstitutionen.
Anna Riethus
studierte Archäologie und Museologie in Wien und Leiden und arbeitet seit 2016 im Neanderthal Museum in Nordrhein-Westfalen. Von 2019 bis 2022 leitete die Wienerin das Forschungsprojekt NMsee, über das sie ihre Promotion an der Universität Heidelberg schreibt. Seit 2022 arbeitet Riethus als Forschungskoordinatorin des Neanderthal Museums.
Die Neanderthal:Memories-App

Von Neandertaler*innen, inklusiven Games und interaktiven Museumserlebnissen

Digitale Anwendungen wie die Neanderthal:Memories-App für Menschen mit Behinderungen können helfen, den Museumsbesuch spannend und inklusiv für Besucher*innen zu gestalten. Ein Erfahrungsbericht über ein einmaliges, mobiles Game für Blinde und Menschen mit und ohne Sehbehinderung im Neanderthal Museum Mettmann.

Themenreihe Digitale Formate

An einem regenreichen Tag im September mache ich mich auf den Weg ins Neanderthal Museum in Mettmann, um das inklusive Game Neanderthal:Memories zu spielen. Über einen kleinen Waldweg gelange ich zu dem Museumsbau, der an eine sich nach oben windenden Spirale erinnert. Schon vor dem Eingang werden Besucher*innen vom Museum dazu eingeladen, die Geheimnisse des Neandertals zu entdecken. Also mache ich mich direkt auf ins Museum, um Neanderthal:Memories auszuprobieren. Das fühlt sich für mich ebenfalls wie ein Geheimnis an, denn ein solches Spiel gibt es bislang in keinem anderen Museum. Es verspricht Blinden sowie Menschen mit und ohne Sehbehinderung ein abenteuerreiches Museumserlebnis - und gewann dafür 2021 den Design Award der International Association for Universal Design (IAUD) sowie den Publikumspreis des DigAMus-Awards 2021 für digitale Museumsprojekte.
 
Was benötigen Kultureinrichtungen, wenn sie eine solche inklusive App gestalten wollen? Diese und viele weitere Fragen begleiten mich auf meinem Besuch ins Neanderthal Museum, wo ich Anna Riethus treffe. Sie ist Projektleiterin für das Forschungsprojekt NMsee des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Nordrhein e.V. und des Neanderthal Museums. Im Gespräch erklärt sie die Hintergründe des Projekts und gibt praxisnahe und hilfreiche Tipps für Kultureinrichtungen, die inklusiv arbeiten möchten. 
 
All about Neanderthal:Memories
 
Im Museum treffe ich zu Anfang den steinzeitlichen Geist Nami, die im Museum festsitzt. Gemeinsam mit ihrem Sohn befindet sie sich auf dem Weg ins Sommerlager, an den sie sich jedoch nicht mehr erinnert. Auf ihrem Weg durch das Museum helfen die Spieler*innen Nami und ihrem Sohn durch Fragen, sich an den Weg zu erinnern, zu kochen oder Höhlenmalereien zu ergänzen. Taktil markierte (ertastbare) QR-Codes und iBeacons (ein Bluetooth-basiertes Lokalisierungssystem) helfen dabei, sich auf ihrem Rundgang im Museum zurecht zu finden. Dieser ermöglicht Besucher*innen, interaktiv spannende Fakten über das Leben in der Altsteinzeit und über die Entwicklung des Menschen zu lernen. 
 
Das zugehörige Game kann in Form einer App kostenfrei auf dem Smartphone installiert werden. Dafür braucht man nur eine WLAN-Verbindung, die es auch vor Ort gibt. Bei allem erklären die Anzeige auf dem Display des Smartphones oder eine KI-Stimme, was getan werden muss, um zur nächsten Station zu gelangen. Die Stationen werden durch das Einscannen der QR-Codes aktiviert. Dadurch kann man auch Tastobjekte, Vitrinen und Forscherboxen wahrnehmen. Diese Möglichkeit hat mir besonders viel Spaß gemacht. Durch das Abtasten von 3D-gedruckten Knochen, Schädeln oder Werkzeugen konnte ich eine viel intensivere und spürbare Verbindung mit den Exponaten eingehen. Beispielsweise wurden für mich kleinere Verletzungen an einem Knochen erst durch das Abtasten sichtbar. 
 
Das Game hilft Blinden und Besucher*innen mit Sehbehinderung, selbstständig das Museum zu besuchen. Die sonst dringend benötigte Begleitperson fällt im Neanderthal Museum nun weg, weil neben einem Bodenleitsystem auch eine KI-Stimme Orientierung gibt. Für die betroffenen Personen bedeutet das Spiel daher einen immensen Fortschritt bezüglich ihrer Freiheit bei einem Museumsbesuch.
 
 
Herausforderungen für Kultureinrichtungen 
 
Aller Anfang ist schwer, besonders wenn es sich um ein Pionierprojekt wie Neanderthal:memories handelt. In dem Spiel stecken zwei Jahre an Arbeit eines gesamten Museumteams und ca. 200.000 € Fördergelder. Wichtig ist hierbei, zu betonen, dass das Spielkonzept vom Neanderthal Museum komplett entwickelt werden musste, denn bis dato gab es nichts Vergleichbares. Die Idee kam während des Museumsumbaus im Jahr 2016. Bei diesem war dem Museumsteam bereits bewusst, dass sich etwas hinsichtlich der Barrierefreiheit verändern musste. Anna Riethus, damals noch Volontärin am Museum, recherchierte zu dem Thema und unternahm Begehungen im Museum mit Mitgliedern des Blinden- und Sehbehindertenverbands Nordrhein. Dabei wurde dem Team erst deutlich, wie viele Barrieren es im Museum gab - trotz der Screenreader, des Audioguides oder der Videos im Ausstellungsraum. Schnell wurde klar, dass es eine neue Anwendung im Museum geben sollte, die flexibel für Ausstellungen war und eine breite Zielgruppe ansprach. 
 
In den Entwicklungsprozess wurden das ganze Team des Neandertal Museums sowie der Blinden- und Sehbehindertenverband Nordrhein intensiv eingebunden. Dabei übernahm das Museum die Gamestory und die Firma Wegesrand in Mönchengladbach die Software-Entwicklung. Andere Kultureinrichtungen haben jetzt mit Neanderthal:Mmeories ein Vorbild, an dem sie sich für ihre eigenen inklusiven Ideen orientieren können. So können sie Zeit und finanzielle Ressourcen einsparen. Trotzdem bedeutet die Produktion einer inklusiven App einen hohen finanziellen Aufwand für die Kultureinrichtung. Es gibt jedoch zahlreiche gemeinnützige Stiftungen, die solche Vorhaben unterstützen.
 
Digital, barrierearm und inklusiv - wo sollen Kultureinrichtungen anfangen? 
 
Bevor Sie als Kultureinrichtung sich um finanzielle Ressourcen kümmern, sollten Sie sich um Partner*innen bemühen. Achten Sie dabei darauf, dass Sie mit Menschen zusammenarbeiten, die von unterschiedlichen Behinderungen betroffen sind. Das ist das A und O für ein gelungenes inklusives Projekt, denn sie sind die Expert*innen, wenn es um barrierearme Umsetzungen geht. Diese Dialoge können durch keine Leitfäden ersetzt werden. Aus diesen können Kultureinrichtungen laut Anna Riethus "massenhaft" lernen. Schwierige Probleme können in der Zusammenarbeit mit Betroffenen schnell und unproblematisch gelöst werden. Eine enge Kooperation hilft zudem dabei, aus der eigenen Erlebniswelt herauszutreten, Hürden anderer wahrzunehmen und diese abzubauen. Man sollte sich bewusst machen, so Anna Riethus, dass jede Entscheidung bei der Präsentation und Vermittlung von Kulturinhalten die Erlebniswelt vieler Menschen beeinflusst. Dabei kann es sich darum handeln, wie Blinde und Menschen mit Sehbehinderung ihr Smartphone bedienen, dass der Winkel eines Schildes nicht zur Haltung des Handgelenks passt oder wie die Beleuchtung im Museum zu optimieren ist. Diese großen und kleinen Details kann nur dann wahrnehmen, wenn man selbst zu der betroffenen Personengruppe zählt. Deshalb: Führen Sie am Anfang Gespräche und hören Sie zu.  
 
Praxisnahe Tipps für Kultureinrichtung von Anna Riethus 
 
  1. Bevor Sie anfangen zu planen oder umsetzen, nehmen Sie sich Zeit, um sich mit Menschen an einen Tisch zu setzen und von Ihrer Idee zu erzählen. Halten Sie den Dialog über den ganzen Zeitraum aufrecht und hören Sie zu. Diesem ersten Punkt soll besondere Bedeutung zugemessen werden, weil Blinde und Menschen mit Sehbehinderung meist kein fester Bestandteil der Museumspersonals sind.
  2. Planen Sie bei digitalen Projekten nicht bis zum Ende, sondern setzen Sie grobe Ideen einfach und schnell um und testen Sie sie (agiles Projektmanagement). Nur durch Ausprobieren können Sie herausfinden, ob Sie sich auf dem richtigen Weg befinden oder auf eine Sackgasse zusteuern. Eine Möglichkeit könnte eine Pen-&-Paper-Lösung sein, die auch im Neanderthal-Museum angewandt wurde. Bei dieser werden, wie bei den gleichnamigen Rollenspielen, mit Stift und Papier fiktive Rollen entworfen, der Spielablauf oder Notizen festgehalten und so Geschichten erzählt und gespielt. Dieser Ansatz hilft bei der Entwicklung digitaler Spielkonzepte, um Ideen schnell und ohne großen Aufwand zu testen. 
  3. Jedes Game benötigt gutes Storytelling. Durch eine gute Geschichte können Sie Spieler*innen aktiveren, bewegen und überzeugen - und im besten Fall kommen Besucher*innen allein oder mit Freund*innen in Ihr Museum zurück. Storytelling beansprucht viel Zeit und unterscheidet sich von gewöhnlichen Ausstellungstexten und -konzepten, weil es mehr umfassen muss als einen Rahmen für Objekte. Hier wird empfohlen, eine*n Autor*in zu beschäftigen, der*die am besten aus dem journalistischen oder literarischen Bereich kommt und es gewohnt ist, kreativ zu schreiben. Erst eine gelungene Geschichte macht das Angebot spannend und attraktiv für die Spieler*innen. 
  4. Verstehen Sie das inklusive Angebot bzw. Game nicht als externes Projekt, sondern binden Sie alle Mitarbeiter*innen in ihrer Kultureinrichtung ein. Alle sollten ihre Erfahrungen und Kompetenzen einfließen lassen, sodass es ein attraktives und erfolgreiches Angebot für jede*n Besucher*in entstehen kann. Ihr Projekt sollte als fester Bestandteil Ihrer Arbeit verstanden werden.
Es gibt immer Luft nach oben
 
Mein Besuch im Neanderthal Museum zeigte mir, dass Museum auch inklusiv, digital und barrierearm geht. Neanderthal:Memories erzählt eine spannende Geschichte, die jede*n Museumsbesucher*in dazu einlädt, interaktiv die Inhalte des Museums kennenzulernen. Das Spiel ist leicht zu bedienen und bietet für Blinde und Menschen mit Sehbehinderung die Möglichkeit, selbstbestimmt ein Museum zu besuchen. Das ist ein großer Fortschritt, aber in der Praxis ist die Benutzungsfreundlichkeit für sehende Besucher*innen suboptimal. Manche Erklärungen sind für die Zielgruppe zu lang und nicht relevant. Grund hierfür waren, wie mir Anna Riethus erklärte, die strengen Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie. Das Museum musste sich in dieser Phase auf eine bestimmte Testgruppe beschränken und entschied sich hier für Personen mit Sehbehinderungen. Vernachlässigt wurden sehende Menschen und Menschen mit anderen Behinderungen. Aus diesem Grund ist das Spiel noch nicht in leichter Sprache verfügbar und nicht spielbar für Gehörlose oder Schwerhörige. 
 
Auch die iBeacons können zu Problemen führen. Aktuell sind sie noch zu ungenau oder fallen durch leer gehende Batterien aus. Das ist besonders problematisch, wenn ein Mensch mit Sehbehinderung die Ausstellung allein besucht und sich durch den Ausfall nicht mehr orientieren kann. 
 
Was ich mitnehme aus meinem Besuch im Neanderthal Museum 
 
Digitale und inklusive Angebote werden für Kultureinrichtungen immer wichtiger.  Kultureinrichtungen können dadurch (Erst-)Besucher*innen überhaupt einen Besuch ermöglichen und diesen spannend und abwechslungsreich gestalten. Durch das spielerische Auseinandersetzen mit schwierigen und vielleicht als trocken wahrgenommenen Inhalten können Besucher*innen Informationen stärker verinnerlichen oder sind vielleicht gewillter, ihre Freizeit in Kultureinrichtungen zu verbringen. 
 

Unterstützungsabos


Mit unseren Unterstützungsabos unterstützen Sie unsere Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – und damit alle unsere kostenfreien Inhalte, also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 15€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 15,00 EUR / 1 Monat(e)*

25€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 25€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 25,00 EUR / 1 Monat(e)*
* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB