03.10.2013

Autor*in

Jürgen P. Rinderspacher
Wechselverhältnis von Zeit, Zeitdruck und Innovation

Zeit für Kultur

Dass der moderne Kulturbetrieb nicht nur Kunst ist, sondern auch Kommerz, ist eine Binsenwahrheit, ebenso wie die Erkenntnis, dass auch in der Kreativwirtschaft Gewinne gemacht werden wollen. Im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit ist das Kunstwerk nicht viel weniger und nicht so ganz anders ökonomischen Zwängen unterworfen, als viele andere Produkte, die eine Ware sind. Auch das Stadttheater, das aus Kostengründen die neue Produktion unter hohem Zeitdruck auf die Beine stellen muss, sieht sich wenn nicht dem direkten Druck des Marktes, so doch dem des Kulturdezernenten ausgesetzt, der seinerseits mit dem Rücken zur Wand gegen das Banausentum seines Kämmerers kämpft.
Überall dort, wo Kunst auf Ökonomie trifft, ist der Zeit-Konflikt strukturell angelegt, wenn auch nicht notwendig vorprogrammiert. Die modernen Hochleistungsgesellschaften befinden sich in einem allumfassenden Prozess des immer weiteren Zugriffs der ökonomischen Logik auf den jeweiligen Gegenstandsbereich, in der Medizin genauso wie in der Pädagogik der Bereich Kunst und Kultur macht da keine Ausnahme. Der daraus regelmäßig entstehende Zeitdruck für die Akteure Pädagogen, Ärzte, Pflegepersonal, Kunstschaffende bedroht regelmäßig die Qualität der Arbeitsergebnisse. So setzt der immer restriktivere finanzielle Rahmen einer Theater- oder Musik-Produktion oder einer Ausstellung Grenzen für deren mögliche Herstellungsdauer und damit mehr oder weniger auch für deren Qualität. Womit nicht gesagt sein soll, dass Produktionen mit höherem Budget und mit mehr Produktionszeit automatisch besser sein müssen. Umgekehrt gilt allerdings, dass die aus jedem beliebigen Wirtschaftsunternehmen bekannte Strategie des Trial and Error: nämlich zu schauen, wie weit man mit ständig reduzierten Produktionskosten noch zu annähernd gleicher Produktqualität kommt, für den Kulturbetrieb nicht weniger als dort zur Pleite führen kann, wenn der Versuch schief geht, weil die mindere Qualität vom Konsumenten nicht mehr akzeptiert wird.

Innovation ein Zeit-Produkt
 
Besonders kritisch wird dies, wo es um zugespitzte Kreativität, das heißt um Innovationen geht. Denn die Innovation als solche ist emphatisch eine Funktion der in sie investierten Zeit, in diesem Sinne ein Zeit-Produkt, und zwar in dreifacher Hinsicht:

Erstens ist der Begriff der Innovation als solcher ein zeitlich relationaler, indem er ein Ding, eine Erscheinung völlig abstrahierend von ihrem konkreten Inhalt dadurch charakterisiert, dass diese zuvor noch nicht da war. Das ist in unserer Epoche, die ganz auf Zukunft und Fortschritt getrimmt ist, von besonderer Bedeutung: Das Neue erhebt zumindest implizit den Anspruch, grundsätzlich dem Alten überlegen, besser zu sein. Das Neue ist per se eine Nachricht. Dass etwas neu ist, gibt dem Konsumenten den Impuls, zu kaufen
oder hinzugehen. Die institutionalisierte Neugier einer ganz auf Zukunft hin orientierten Gesellschaft bestimmt damit auch zu einem erheblichen Teil die ästhetische Qualität künstlerischer Produktion: Innovation als Selbstzweck. Die gelegentliche Verehrung des Altehrwürdigen, die wir zugleich vorfinden, ist dabei nur die Komplementärerscheinung der gesellschaftlich bedingten Überschätzung des Neuen als dem schlechthin Höherwertigen.

Zweitens kann als eine Innovation nur bezeichnet werden, was einen Schöpfer bzw. eine Schöpferin aufweisen kann, der/die diese erdacht und ins Werk gesetzt hat. Innovation ist Handeln, die Tat des Innovierens, und somit emphatisch ein Zeitgeschehen: Die Arbeit an der Innovation geschieht als sukzessive Abfolge vieler kleiner und großer Arbeitsschritte in Tagen, Wochen, Jahren sie hat ein Ziel und einen Weg, möglicherweise gehen in der Praxis beide ineinander über. Doch während das Ziel in der Regel ein Sachliches ist, ist der Weg ein Zeitliches: Kreativität ist Sucharbeit, ist Hoffen auf Inspiration aber auch planvolle, mühsame handwerkliche Umsetzung des Entwurfs. Oder wie ein berühmter Musiker sagte: Komponieren heißt zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration.

Drittens kann es sein, dass sich auf dem Weg herausstellt, dass das Ziel wieder verworfen werden muss. Dann war die aufgewandte Zeit eine Fehlinvestition oder doch nicht? Das Bewegungsmuster der Kreativität ist das einer Springprozession und Innovation ist das praktizierte Risiko. In der Regel kennen wir nur diejenigen Kulturschaffenden, die erfolgreich sind und waren, nicht aber jene, deren Arbeiten sich warum auch immer nicht durchsetzen konnten: Offenbar ist in der Freiheit, die der Kunst innewohnt, die Möglichkeit ihres Scheiterns enthalten. Tatsächlich wäre sie ohne die Unsicherheit, die mit dem Suchen verbunden ist, keine Kunst. Mit anderen Worten ist die Offenheit und Freiheit der Kunstproduktion nicht denkbar ohne Zeit, das heißt ohne genügend Zeit zur rechten Zeit für diejenigen, die sich auf den Weg machen, das Neue zu finden.

Jede Ökonomisierung, egal wo sie stattfindet, zielt aber genau auf das Gegenteil: Unnützen Zeitverbrauch zu vermeiden. Weil mehr Zeitverbrauch höhere Ausgaben bedeutet, sind Irrwege und Sackgassen soweit möglich zu vermeiden. Das aber bedeutet die Suche nach dem Neuen, die Innovation auf den Rahmen zu beschränken, den das Budget vorgibt und dem sicher Vorzeigbaren den Vorzug vor dem riskanten Exkurs zu geben. So gesehen ist jede zeitliche Einschränkung, die über ein bestimmtes Maß hinausgeht, zunächst einmal ein Feind der Innovation, vor allem wenn sie wirtschaftlich begründet ist. Die Frage ist dann, wer dieses Maß für den richtigen Budgetrahmen setzt und mit welcher Begründung.

Kunst als zeitfreie Erscheinung
 
War die Kunst beziehungsweise das Kunstwerk in der Theorie nicht als eine gleichsam zeitfreie Erscheinung gedacht? Wie lange es dauert, und warum es so lange dauert, bis eine Skulptur von ihrer Schöpferin als ausstellungsreif (um nicht zu sagen fertig) angesehen wird, bleibt in der Idealwelt des Kunstschaffens von zeitlichen Kriterien unberührt und folgt allein endogenen ästhetischen Prinzipien, ebenso wie die Herstellungsdauer eines Romans oder eines Musikstückes. Die Wirklichkeit ist wie wir wissen eine ganz andere. Aber woher die schöpferisch notwendige Zeit nehmen? Das Thema ist bei näherer Betrachtung überhaupt nicht neu. Zeitdruck entstand schon immer, wenn sich der/die Kunstschaffende von ihrer Arbeit ernähren wollte oder musste. Franz Kafka konnte oder wollte nicht auf die Annehmlichkeiten einer bürgerlichen Existenz verzichten und folgte dem altbekannten Muster des Brotberufs, Thomas Mann vertraute auf den kommerziellen Erfolg seiner Kunst und verdiente sich damit eine goldene Nase, ebenso wie Vater Leopold schon den jungen Wolfgang Amadeus dazu anhielt, mit Komponieren und Konzerten recht artig Geld zu verdienen.

Längst haben wir die gewerkschaftliche Organisation als starke Kraft in der Lebenswirklichkeit des Kulturbetriebes, bei Orchestern und anderswo. Damit sind Einkommen, Alterssicherung, Arbeitsbelastung und Gesundheitsschutz wenigstens dort ein Thema. Allerdings ist die Szene aufgespalten zwischen jenen wohl organisierten Kreativbereichen hier und den Freien dort, oder dem Zwischenbereich derjenigen, die befristete Verträge haben und vom einen in den anderen Sektor hin und her wechseln. In der Praxis einer Künstlerbiographie bedeutet das zumeist, sich für beide bereit zu halten. So etwa für Schauspieler, deren Vertrag kurz vor der 10-Jahres-Frist, bei deren Überschreitung sie dauerbeschäftigt wären, zu Ende geht. Der Zeitdruck in der Kultur stellt sich für die meisten Kulturschaffenden also als ein unvermittelter dar, der von der Marktlage in den Teilsegmenten der Kunst geprägt ist. Er bezieht sich nicht nur auf das Alltagsgeschäft, sondern entsteht nicht unwesentlich auch im Horizont der Erwerbsbiographie Kunstschaffender: Mit den physischen und mentalen Kräften Haus zu halten, den Spannungsbogen des eigenen Images in der Öffentlichkeit Darstellung zu halten, die altersbedingten Veränderungen der Person im Lebensverlauf zu antizipieren und schließlich zu akzeptieren.

Ökonomisierung als Prinzip akzeptiert jedoch diese Langzeitperspektive nicht. Im Gegenteil, wie die Finanzindustrie unverhohlen öffentlich demonstriert, neigt sie zum kurzfristigen und nicht zum nachhaltigen Agieren, zum schnellen Erfolg, zur Quantität und nicht zur Qualität. Sie meidet daher das Risiko und daher letztlich auch die Innovation. Da der Kapitalismus dennoch ununterbrochen irgendwelche Neuerungen hervorbringt, muss nach der Qualität der Ergebnisse gefragt werden. Hier scheiden sich zwar die Geister, denn was wären wir ohne Smartphone und Internet, aber auch ohne Synthesizer? Vieles spricht eben dafür, dass Kreativität unter Zeitdruck, den die Ökonomisierung bewirkt, zwar die Fortentwicklung des Ähnlichen auf eingeschliffenen Pfaden ermöglicht, jedoch kaum Basisinnovationen und vor allem nicht die Änderung der Richtung. Wenn man aber Kunst als das Reich eines bestimmten Typs von Basisinnovationen, nämlich solchen des menschlichen Ausdrucks versteht, kann die Ökonomisierung ihrer Kreativbereiche nur destruktiv wirken.
 
Zeit-Biotope für Kunstschaffen
 
Der Ort der Kunst also als ein zeitliches Biotop, innerhalb dessen die Regeln
von Reproduktionsökonomie und Kommerz nicht gelten, wo das hehre Kunstwerk gewissermaßen nicht mit den Schleifspuren des Zeitdrucks kontaminiert werden darf? Man könnte freilich der Meinung sein, dass Kunst
heute, will sie den Menschen etwas sagen, gerade nicht mehr aus dem Off einer zeitlosen Enklave zu ihren Rezipienten sprechen darf, sondern im Gegenteil unter den Bedingungen eben dieser frustrierenden Alltagserfahrung unaufhörlicher Zeitnot entstehen muss, die so charakteristisch für unsere Gesellschaft ist. Denn nur so könne sie sich gleichsam mit leidend authentisch Botschaften an ihre Adressaten senden. Das gilt für die unter Zeitdruck entstandene Theaterproduktion genauso wie für den unter Produktionsdruck entstehenden Roman. Eine Tanztruppe in Köln, Michael Douglas, tut eben dies mit ihrem Programm One Week Stand: Am Samstag wird dem Publikum das vorgeführt, was die Truppe zwischen Montag und Freitag zu einem bestimmten Thema erarbeitet hat. Der Zeitrahmen als leitende ästhetische Bezugsgröße?

Man könnte freilich auch genau das Gegenteil postulieren: Kunst soll mehr sein als ein Reflex unserer zeitgenössischen Zeit(Un-)Kultur und sich im Gegenteil die Aufgabe stellen, ihr utopisches Potenzial von einem besseren Leben zur Geltung zu bringen, zu dem immer öfter auch die verwirklichte Sehnsucht nach entschleunigten Lebenswelten gehört. Dann jedoch muss sie der Versuchung widerstehen, sich opportunistisch dem Zeit-(Ökonomie-)Geist von Teilen des modernen Kulturbetriebes anzupassen. Dann müssten schon die Produzenten von Kunst durch ihre von zeitlichen Zwängen weithin entkoppelten Produktionsbedingungen deutlich machen, dass die zeit-gemäße Gesellschaft, die uns Michael Ende so eindrucksvoll in Momo vorgeführt hat, nicht das letzte Wort der Geschichte darstellen muss. Wer anders sollte das noch können, wenn nicht die Kunst?
 
Dieser Beitrag entstammt dem KM Magazin "Innovation". Das gesamte Magazin können Sie hier lesen.

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