14.01.2009

Autor*in

Karl Ermert
Kulturelle Bildung

Das Kulturpublikum von morgen

Ohne kulturelle Bildung kein Kulturpublikum ... Diese schlichte Aussage gewinnt vor dem Hintergrund zweier Fakten Brisanz: 1) In den letzten zwanzig Jahren ist das Angebot rezeptiver und produktiver Beteiligungsmöglichkeiten an anspruchsvollerer Kultur enorm gestiegen. Der Anteil derjenigen in der Bevölkerung, die sie wahrnehmen, ist jedoch bei fünf bis zehn Prozent gleich geblieben, wenn auch mitgestiegener Nutzungsfrequenz. So erklären sich die durchaus gestiegenen Besuchszahlen. 2) Der altersdemografische und kulturdemografische Wandel führt in den nächsten Jahrzehnten dazu, dass der Anteil der bildungsbürgerlichen Schichten und Gruppen der Bevölkerung sinkt, aus denen sich traditionell die Besucher von hochkulturellen Angeboten speisen.
Will dieses Land also seine weltweit einmalige Dichte und Vielfalt kultureller Infrastruktur und Angebote sinnhaft erhalten, also für die tatsächliche Nutzung durch viele Menschen, müssen Wege gefunden werden, bislang kulturferne Schichten zu erreichen und zu aktivieren. Das wird nicht ohne Rückwirkung auf Inhalte, Struktur und Organisation der Kulturangebote in der ganzen Breite ihrer Institutionen gehen und schon gar nicht ohne kulturelle Bildung, und zwar als "konzertierte Aktion" von Kindergarten, Schule, außerschulischen Bildungsanbietern und den Kulturinstitutionen selbst, die ihre Bildungsfunktion ungleich stärker wahrnehmen müssen als in der Vergangenheit. Aber kulturelle Bildung als "audience development" ist natürlich kein Selbstzweck. Kulturelle Bildung hat ihren Wert als demokratisches Grundrecht für Alle. Dazu im Folgenden der Versuch einer thesenhaften Explikation der Zusammenhänge.
 
Bildung
Bildung soll den Menschen zu "erfolgreichem Verhalten in der Welt" (Robinsohn) befähigen. Sie hat immer drei Dimensionen: individuelle Persönlichkeitsentwicklung, Ausstattung zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe und Befähigung zur Berufsausübung. Dazu gehören Sachwissen, praktische Handlungskompetenzen, emotionale Kompetenzen und die Fähigkeit der Selbstreflexion, also Orientierungswissen.
Jede Gesellschaft braucht ein Bildungssystem, das Grundlagen für Zusammenleben und gemeinsame Weiterentwicklung schafft. Die Bedürfnisse der Gesellschaft nach Anpassung des Individuums und die des Individuums nach Freiheit und Selbstverwirklichung werden im Idealfall in einer glücklichen Balance gehalten. Was für glücklich gehalten wird, hängt ab von der kulturellen Tradition. In westlichen, jüdisch-christlichen und humanistisch-aufklärerischen Traditionen, wie sie etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zugrunde liegen, wird das Glück des Individuums als solchem betont. Andere religiöse und kulturelle Traditionen sehen das Glück des Einzelnen stärker an das Glück der Gemeinschaft geknüpft.
Kultur
Kultur im weiteren Sinne meint die jeweils typischen Erscheinungen in der Gesamtheit der Lebensvollzüge einer Gesellschaft (Nation, Ethnie, Gruppe usw.) von den technischen und künstlerischen Hervorbringungen bis zu den Verhaltensmustern des Zusammenlebens und den Wertvorstellungen und Normen, also auch den philosophischen oder religiösen Bezugssystemen einer Gemeinschaft. Das ist ein historischer, soziologischer oder auch ethnografischer Gebrauch des Wortes Kultur.
Mit Kultur im engeren Sinne werden die Künste und ihre Hervorbringungen bezeichnet: Bildende Kunst, Literatur, die darstellenden Künste (von Theater über Tanz bis Film), Musik, die angewandten Künste wie Design und Architektur sowie die vielfältigen Kombinationsformen zwischen ihnen. Sie stellen aus der Kultur im weiteren Sinne die Teilmenge dar, um die es im Folgenden geht. Zwischen engerem und weiterem Begriff von Kultur sind die Übergänge fließend.
Kulturelle Bildung
Kulturelle Bildung (älterer Begriff: musische oder musisch kulturelle Bildung; ebenfalls oft gebraucht: ästhetische Bildung) trägt zu allen Dimensionen von Bildung bei: Mit kultureller Bildung gibt eine Gesellschaft das Wissen über ihr kulturelles Erbe an die nachfolgenden Generationen weiter. Kulturelle Bildung bezeichnet den Lern- und Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium der Künste und ihrer Hervorbringungen. Im Ergebnis bedeutet kulturelle Bildung die Fähigkeit zur erfolgreichen Teilhabe an kulturbezogener Kommunikation, am gesellschaftlichen Geschehen im Allgemeinen und an erfolgreicher Berufstätigkeit. Kulturelle Bildung ist unabdingbarer Teil der Allgemeinbildung. Kulturelle Bildung ist Bildung für Lebenskunst. Bildung in den Künsten oder durch die Künste? Die unterschiedlichen kulturellen Traditionen in der Welt führen zu unterschiedlichen Auffassungen von der Rolle der Künste und dem entsprechend auch der künstlerisch kulturellen Bildung in der Gesellschaft. Nach Bamford (2006) kann unterschieden werden zwischen "education in the arts", Bildung in den Künsten, also dem, was konventioneller Unterricht in Kunst, Literatur, Musik usw. an Wissen und Fertigkeiten zur Ausübung und zum Verständnis künstlerisch-kultureller Arbeit und Kommunikation leistet, und "education through the arts", Bildung durch die Künste. Damit sind die Wirkungen gemeint, die die Künste in der Vermittlung anderer Inhalte und vermittelter Fähigkeiten in anderen, nichtkünstlerischen Arbeits- und Lebenszusammenhängen entfalten. Beides ist sinnvoll und legitim.
Die europäisch geprägte Tradition, am schärfsten davon vielleicht das deutsche Denken, betont Freiheit und Autonomie der Kunst. Kunst darf grundsätzlich nicht für "kunstfremde" Zwecke eingesetzt, der Künstler nicht gegen seinen Willen für politische, religiöse oder auch soziale oder pädagogische Ziele in Anspruch genommen werden. Das ist das Ergebnis einer langen Emanzipationsgeschichte der Kunst von religiösen und politischen Bevormundungen. In anderen Kulturen wird der Gegensatz von künstlerischer Arbeit und gesellschaftlichem Engagement nicht so scharf gesehen. Häufig gehört ein gesellschaftlicher, politischer oder auch religiöser Bezug selbstverständlich zur künstlerischen Arbeit. Diese Unterschiede im Denken über die kulturellen Funktionen der Künste sind auch im Unterschied des Denkens über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft begründet. Sie unterteilen die Welt der Künste und der kulturellen Bildung aber nicht in "gut" und "schlecht", sondern in "so" und "anders".
Internationale Unterschiede
Kulturelle Bildung ist inhaltlich abhängig vom jeweiligen nationalen, ethnischen, kulturellen und ökonomischen Kontext. Durchgängig finden sich Bildende Kunst (Zeichnen, Malen), Musik und kunsthandwerkliches Gestalten in den Lehrplänen. In ökonomisch weit entwickelten Ländern werden auch Neue Medien (Film, digitale Medien) einbezogen. Die schulischen Curricula sind äußerlich oft sehr ähnlich, die Praxis weicht in vielen Ländern davon ab. Einflussfaktoren sind staatliche Vorgaben, kulturelle Ideale der jeweiligen Gesellschaft sowie professionelle Standards der Lehrkräfte. Hochwertige kulturelle Bildung geht in der Regel einher mit intensiver Kooperation zwischen Schule und außerschulischen kulturellen (Bildungs-)Einrichtungen und hohen Standards der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte. Hoch entwickelte Ökonomien sind üblicherweise durch einen expansiven kultur- und kreativwirtschaftlichen Sektor gekennzeichnet.
Lücke zwischen Wertschätzung und Wirklichkeit
Kulturelle Bildung wird gerade in den letzten Jahren von allen Seiten in ihrem Wert hoch eingeschätzt, zuletzt in Deutschland wieder im Schlussbericht der Enquetekommission "Kultur in Deutschland" des Deutschen Bundestags vom Dezember 2007. Kulturelle Bildung ist ein Hoffnungsträger im Paradigma der Bildungsbemühungen geworden. Kreativität ist höchst gefragte Schlüsselkompetenz mindestens in qualifizierteren Zusammenhängen der Arbeitswelt. Zugleich ist sie im üblichen Paradigma von Pädagogik und Didaktik von Schule über Berufsbildung bis Weiterbildung nur schwer zu vermitteln. Kreativität wird als selbstverständliche Grundkompetenz aber in den Künsten und bei Künstlern und Kulturvermittlern vorausgesetzt. Die Folge: Auf die Künste, auf Künstler und Kulturvermittler richtet sich die Hoffnung auch der Allgemein-, Berufs- und Weiterbildner. Durch den Einsatz künstlerischer Mittel und Methoden erhofft man sich Transferleistungen in Kreativität, Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit auch in Bildungsprozessen für sonstige, auch unkünstlerische Tätigkeitsbereiche.
Aber: Zwischen hoher politischer Wertschätzung und Wirklichkeit der kulturellen Bildung klaffen tiefe Widersprüche, z. B. abzulesen an dem marginalen Status der betreffenden Schulfächer. Diese Tendenz wird verstärkt durch die PISA-Diskussion, die die Aufmerksamkeit und Ressourcen einseitig auf die PISA-geprüften Fächer lenkt, und durch die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre.
Und: Die Künste und auch kulturelle Bildung werden ihre Kraft (nur) behalten, wenn sie in Freiheit ihren Eigen-Sinn verfolgen und selbst darüber entscheiden können, in welcher Weise sie dann gesellschaftlich "sich anwenden" wollen. Die Ressourcen, die eine Gesellschaft dafür einsetzt, sind eine Investition in die Zukunft des Glücks der Individuen ebenso wie des Glücks der Gesellschaft.
Merke: "Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere." (Ad Reinhardt)
Quellen und Hinweise
· Bamford, Anne (2006): The Wow Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education. München
· Ermert, Karl: Was ist kulturelle Bildung? (2007). In: Bundeszentrale für politische Bildung: Online-Dossier Kulturelle Bildung. Siehe: www.bpb.de/themen/Y4KBG5,0,0,Was_ist_kulturelle_Bildung.html
· Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages. Regensburg: Conbrio Verlag 2008. 774 S. m. DVD. Download als Bundestagsdrucksache 16/7000 unter: http://dip.bundestag.de/btd/16/070/1607000.pdf
· Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion Konzeption Kulturelle Bildung III. Hg. v. Deutschen Kulturrat. Berlin 2005. Auch als Download unter: www.kulturrat.de/dokumente/studien/konzeption-kb3.pdf
DR. KARL ERMERT geb. 1946, Dr. phil., Germanist und Historiker, nach beruflichen Stationen an der Universität Trier, der Ev. Akademie Loccum und dem Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung GmbH an der Universität Hannover seit 1999 Leiter der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Inhaltliche Schwerpunkte: Theorie und Praxis kultureller Bildung, Kulturpolitik, Kultur und Demografie, bürgerschaftliches Engagement/Ehrenamt. Zahlreiche Veröffentlichungen.
 

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