26.03.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Lydia Grün
wurde 1976 in Essen geboren. Sie studierte Musikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Berlin. Nach verschiedenen Stationen im Bereich der Musikvermittlung war sie bis 2019 die Geschäftsführerin des Netzwerk junge Ohren e.V.. Aktuell leitet sie den Masterstudiengang Musikvermittlung an der Hochschule für Musik Detmold sowie die Produktion des BTHVN2020 Musikfrachters.
Julia Jakob
studierte Musikwissenschaft und Kulturmanagement in Weimar. Praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb sammelte sie bei unterschiedlichen Festivals und in verschiedenen Veranstaltungsbüros sowie als Agentin bei weim|art e. V. Seit 2021 ist sie die Chefredakteurin des Kultur Management Network Magazins und stellvertretende Leiterin der Redaktion.
Neuer Kurs des BTHVN2020 Musikfrachters

Einen Sinn in der Krise finden

Manche (Kultur-)Feste können trotz Corona so gefeiert werden, wie sie fallen. Dafür müssen Kulturschaffende mitunter neue Formate erproben, wie das Beispiel des BTHVN2020 Musikfrachters zeigt. Wie das Projekt den aktuellen Auflagen entsprechend noch stattfinden kann und welchen Sinn die Crew dabei in der Krise fand, berichtet Produktionsleiterin Lydia Grün im Interview.

Themenreihe Corona

KMN: Liebe Frau Grün, am 15. März sollte der BTHVN 2020 Musikfrachter bis zum 17. April sich auf den Weg von Bonn nach Wien begeben. Die Tour musste aber - wie alle anderen Veranstaltungen auch - kurzfristig abgesagt werden. Wie haben Sie und Ihr Team diese Entscheidung aufgenommen?

Lydia Grün: Wir haben die Entwicklungen der letzten Wochen bereits die ganze Zeit mit Sorge betrachtet und sind entsprechend behutsam mit unserem Vorgehen umgegangen. Allerdings hatten wir bis zu unserer Schifftaufe am 12. März noch vor, die Projektarchitektur aufrecht zu erhalten - zumindest so lange, wie es verantwortbar ist und niemand gefährdet wird, egal ob Publikum oder Mitwirkende. Denn wir hatten 100 Veranstaltungen geplant, bei denen sowohl kleine als auch große Kooperationspartner der verschiedenen Städte, in denen wir angelegt hätten, beteiligt waren: von der Musikschule Koblenz über die Popakademie bis hin zum Nationaltheater Mannheim oder dem Heidelberger Frühling. Alle diese Partner haben meist ehrenamtlich wahnsinnig viel Kraft und Zeit in die Planung und Entwicklung der Konzerte und Workshops reingesteckt. Da schmerzt es dann einfach extrem, wenn so ein Strahlkraft-Projekt abgesagt wird.

Ebenso war der emotionale Impact ziemlich hoch bei unserer Crew. Diese besteht neben Sebastian Steube und mir als Produktionsleitung aus der Kapitänsfamilie, dem Maat, sechs jungen Kulturschaffenden und unserem Tontechniker Thorsten Hellbronn. Gemeinsam hatten wir uns lange auf die Tour vorbereitet und auf das Ziel eingeschworen. So haben wir die Schiffstaufe entsprechend der geltenden Auflagen noch durchgeführt, dabei die ersten Workshops gemacht und am Abend die erste Vorstellung gespielt. Währenddessen spitzte sich die Lage aber immer weiter zu, weshalb ich dann nach der ersten Vorstellung in der unglücklichen Situation war, neben dem großen Glückwunsch an die Crew für diesen überwältigenden Auftakt allen auch mitzuteilen: "Das war's". Die Trauer war entsprechend groß. Aber ich bin extrem stolz auf meine Crew, denn wir haben direkt am nächsten Tag gemeinsam mit der Geschäftsführung des Projektträgers, der Beethoven Jubiläums GmbH und mit Katharina Radowitz, der Geschäftsführung des Netzwerk Junge Ohren, sofort darüber nachgedacht, wie es jetzt weitergeht, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes die Fördergelder für das Projekt zu versenken.
KMN: Also kam die Idee, den Frachter zur Produktionsstätte für digitale Musik-, Kultur- und Vermittlungsformate umzufunktionieren, sehr schnell?

LG: Die hatten wir schon am Abend der Schiffstaufe, als das kippte - auf Initiative von Malte Boecker. Das mussten wir die folgenden Tage aber noch konkret mit einer Struktur unterlegen und natürlich immer wieder die Situation prüfen. Am ersten Liegeplatz zu bleiben und ein Studio zu werden, war da aktuell einfach die sinnvollste und sicherste Option.

Neben dem großen Wohlwollen der Beethoven-Jubiläumsgesellschaft hat uns außerdem der Zuspruch von den Musiker*innen selbst gestärkt, die uns darum gebeten haben, weiter zu machen, weil sie genau das im Moment brauchen.

Der Frachter ist mit seinen über 100 Metern und seiner knallroten Farbe natürlich ein Symbol. Und diese Kraft wollen wir nutzen, um auch auf die Situation von Künstler*innen, denen es jetzt existentiell an den Kragen geht, aufmerksam zu machen. Wir haben auch überlegt, wie wir irgendeine Form von menschlicher Regung durch die Musik in diesen Zeiten auslösen können und dabei den Frachter in eine Arche Noah der Musik umbauen. Wir haben versucht, uns alle zusammenzureißen und daraus ein Konzept zu bauen. Das alles können wir natürlich nur so lange machen, wie es verantwortbar ist. Um beispielsweise das Social Distancing während der Produktionszeit zu gewährleisten, haben wir nur sehr wenige Musiker*innen auf einmal ins Studio gelassen und auch ab Montag die Produktionen mit externen Gästen eingestellt. Zudem dokumentieren wir mit einem Logbuch, wer an Bord kommt und wieder geht. Mit jeder Entscheidung und jeder Auflage der Behördenwägen wir nach wie vor immer wieder ab, wo wir aktuell stehen und wie wir damit umgehen können. Dabei suchen wir immer wieder nach dem Sinn in dieser Krise und versuchen dem eine Plattform zu geben.

KMN: Welche vorhandenen Strukturen können Sie denn dabei für das Studio nutzen?

LG: Unsere Crew haben wir ja mit dem Hintergrund zusammengestellt, gemeinsam mit unseren Kooperationspartner*innen auf dem Frachter als mobile Bühne Veranstaltungen umzusetzen. Dieses Team haben wir jetzt als Redaktionscrew umfunktioniert, die jede Produktion als Veranstaltung sieht. Dazu haben wir drei Bereiche aufgeteilt: Ein Team kümmert sich um Bildungsformate wie Erklärvideos oder Tutorials, das zweite um Diskursformate wie Podiumsdiskussionen oder Interviews und das dritte um alle Performances wie Konzerte und Sessions. Denn ursprünglich wollten wir möglichst vielen Menschen ermöglichen, die Musik sowie das Sujet Beethovens vielfältig zu erleben und sich darüber auszutauschen, insbesondere jenen, die mit klassischer Musik noch nicht so oft in Berührung gekommen sind. Von dieser inhaltlichen Grundstruktur ausgehend, haben wir am 17. und 18. März ein riesiges Brainstorming gemacht und viele Musiker*innen angefragt, ob sie für den Frachter spielen möchten.

Ein weiteres Team ist für die Dispo zuständig, um die Produktion zu gewährleisten und diese zu koordinieren. Wir müssen viel vorproduzieren, damit wir am 28. und 29. März dann die Stücke live in den Stream jeweils von 10 bis 22 Uhr einspeisen können. Wir haben dazu ein Filmteam aus Köln, die Chinzillas, an unserer Seite, die im Kontext des Beethoven Jubiläums sowieso gedreht hätte. Damit sind Kameras, Videoregie und die Postproduktion gesichert. Licht und Ton haben wir bereits an Bord, sodass wir mit dem arbeiten können, was wir haben. Ebenso hatten wir ursprünglich schon eine umfassende Social-Media Strecke geplant, sodass wir auch dafür bereits die entsprechenden Ressourcen haben.. Prinzipiell hätten die Musiker*innen ohnehin Sessions oder Konzerte gespielt oder Workshops gegeben. Durch die Verlagerung ins Netz gibt es das nun in komprimierter Form.

KMN: Personell und technisch scheinen sie das Ganze also gut umsetzen zu können - wie sieht das zeitlich aus?

LG: Zeitlich ist das natürlich alles gerade mit der heißen Nadel gestrickt und wir sagen aktuell immer "Einen Meilenstein pro Tag müssen wir schaffen". Dabei haben wir am Sonntag das Studio ausprobiert und mit Musiker*innen aus Bonn und dem PODIUM Festival den ganzen Tag produziert. In der Nacht haben wir uns dann um den Videoschnitt und die Postproduktion gekümmert. Dabei ist nun so viel Material entstanden, dass wir bis zum 22. März jeden Tag Content für unsere Videobotschaften hatten. Am Montag haben wir uns dann erst einmal um logistische Strukturen gekümmert, wie etwa, um die Müllentsorgung und dass der Frachter hier liegen bleiben kann, und alle anderen Liegeplätze storniert, aber auch Lebensmittel gekauft, was aktuell durchaus eine Herausforderung ist. Am Dienstag haben wir die Redaktionsplanung gemacht, ein Konzept geschnürt und uns mit dem Filmteam zusammengesetzt, was wir technisch wie umsetzen können, welche Shots wir setzen und all so was. Dann ging die Dispo ans Werk und hat die Kommunikation mit den Künstler*innen koordiniert - da hingen alle am Telefon. Donnerstagnachmittag und Freitag haben wir die Regie umgebaut, um dann ab Samstag alles abdrehen zu können. Das ist echt eine Herkulesaufgabe.

KMN: Gab es denn generell Notfallpläne für das Projekt mit vordefinierten Prozessen, die Ihr schnelles Handeln der letzten Tagen begünstigt haben?

LG: Nein, zu einer Situation mit solcher Intensität, wie wir sie aktuell erleben, nicht. Zwar haben wir verschiedene andere Notfälle vorgedacht, wie etwa wenn der Frachter wegen Hochwasser oder ähnlichem partiell nicht fahren kann. Aber dass wir all unsere Partner*innen örtlich nicht erreichen können, dadurch die gemeinsamen Konzerte wegfallen und das Publikum uns komplett wegbricht, hätten wir nie gedacht.

Um dieses Problem dennoch schnellstmöglich strukturiert angehen zu können, haben wir geschaut, welche Spielräume wir noch haben. Dazu haben Frau Radowitz und ich überlegt, welche Strukturen wir für Film- und TV-Produktion benötigen. Redaktionelles Arbeiten kenne ich noch aus meiner Journalismus-Ausbildung. Aber vor allem sind wir durch unsere Arbeit beim Netzwerk Junge Ohren, das ebenfalls eine projektfinanzierte Einrichtung ist, bereits damit vertraut, schnell auf neue Situationen mit neuen Projekten zu reagieren. Da haben wir also schon unsere Mechanismen. Dennoch ist die Geschwindigkeit, mit der wir aktuell arbeiten müssen, und die schnelle Taktung ständig neuer Situationen eine echte Herausforderung.

KMN: Welche langfristigen Folgen erhoffen Sie sich von dieser Umstrukturierung des Projekts?

LG: Dadurch, dass alle Projekte einen Anfang und ein natürliches Ende haben, haben wir aktuell auch noch keinen Plan für eine nachhaltigere Option. Aber ich hoffe prinzipiell auf zwei Effekte: Zum einen, dass wir mit unserem Schaffen den Menschen Kraft geben, um in dieser Krisensituation nicht in totale Resignation und Stillstand zu verfallen. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch die prekäre Situation der Künstlerinnen und Künstler. Und Katharina Bäuml hat das in ihrem Spiegel-Interview sehr gut auf den Punkt gebracht: "Der Steuerberater nächstes Jahr wird sehen, wie viele von uns noch da sind." Damit werden auch die Schattenseiten der Projektfinanzierung nämlich erst richtig deutlich: wenn keine Gegenleistung oder kein Projekt-"Erfolg", dann keine Kohle. Und wenn man keine Perspektive hat, werden wir in ein paar Monaten gegen Ende des Jahres über sehr viele Privatinsolvenzen reden. Ganz abgesehen von den Kolleg*innen, die innerlich aufgeben. Was also an kulturellem Potenzial, dem Soul Food für die gesamte Gesellschaft, verloren gehen könnte, mag ich mir gar nicht vorstellen und möchte, so lange meine Kraft reicht und wir hier immer noch die Fahne hochhalten können, den Frachter als Symbol dafür bespielen.

KMN: Welche Maßnahmen muss denn da aus Ihrer Sicht die Politik jetzt einfach ergreifen, um diese Situation zu verbessern?

LG: Als erstes muss unbedingt über Ausfallhonorare oder so etwas wie bedingungslosem Grundeinkommen für die nächsten Monate gesprochen werden. Es gibt darüber hinaus auch Überlegungen zu Stipendien, damit es freien Künstler*innen und auch Akteur*innen der kulturellen Bildung weiterhin möglich ist, ihre Miete und damit auch ihre Existenz abzusichern. Es geht einfach darum, dass wir nach der Krise noch Fachleute haben. Wenn die aber nicht mehr da sind, haben wir ein existenzielles Problem. Daher muss unbedingt für diese Zeit eine finanzielle Überbrückung angeboten werden. Ebenso kann man auch in der Kulturförderung über alternative Gegenleistungen oder neue Formen von kultureller Praxis nachdenken. Solche Formen beispielsweise, wie wir sie aktuell mit dem Musikfrachter schon ausprobieren. Dafür müssen die Förderer*innen erstens bereit sein, neue Wege mit zu erproben. Und zweitens brauchen wir damit verbunden auch deren Vertrauen gegenüber den Kulturschaffenden, in ihre Professionalität, ihren Fleiß und darin, dass wir in der Lage sind, neue Formate zu entwickeln und auszuprobieren.

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