24.09.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Veronika Schuster
ist ausgebildete Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin. Sie hat mehr als 10 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Kuratorin für verschiedene Ausstellungsprojekte und Kultureinrichtungen gearbeitet. Sie verantwortet bei Kultur Management Network die Leitfäden und Arbeitshilfen und arbeitet als Lektorin und Projektleiterin für unterschiedliche Publikationsformate.
Marc Grandmontagne
ist seit 2017 beim Deutschen Bühnenverein. 2007 bis 2010 war er Leiter des Büros der Geschäftsführung der RUHR.2010-Kulturhauptstadt Europas GmbH sowie anschließend als Programmleiter bei der Stiftung Mercator in Essen tätig. Von 2013 bis 2016 war er Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Dort leitete er u.a. die Verbandsaktivitäten und war in Kulturentwicklungsplanungen und andere Projekte des Instituts für Kulturpolitik involviert.
Situation an den deutschen Bühnen

Eine Zeit voller Unsicherheit

Die Corona-Krise hat die deutschen Bühnen besonders empfindlich getroffen. Wie es weitergeht, ist von vielen Fragen und Unsicherheiten begleitet. Marc Grandmontagne, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins, berichtet im Interview, wie er in die nahe und ferne Zukunft blickt.

Themenreihe Corona

KMN: Lieber Herr Grandmontagne, wie geht den deutschen Bühnen es im Augenblick "emotional"?

Marc Grandmontagne: Die Gefühlslage ist von einer immensen Unsicherheit und von vielen Ängsten geprägt. Vielerorts weiß man schlicht nicht, wie es weitergehen wird. Das bezieht sich auf alle Bereiche, die Probenabläufe, den Herstellungs- und Produktionsprozess, die finanzielle Sicherheit in den nächsten Jahren. Corona hat die deutschen Bühnen, Orchester, Chöre und Tänzer*innen kalt erwischt und bis ins Mark getroffen. Denn die darstellen- den Künste können nicht über eine größere Distanz stattfinden. Das heißt, es herrscht eine immense Lücke im Kunstschaffen und das hat emotional seine Spuren hinterlassen.

KMN: Vieles steht nun unter den Vorzeichen der Sicherheit in Sachen Hygiene. Welche "Modelle" werden wir in der nächsten Spielzeit sehen?

MG: Wir haben nach der sehr rapiden Schließung im März eine Phase des absoluten Stillstands gehabt. Zu dieser Zeit waren die Dimension und die Entwicklung noch gar nicht abzusehen. Ab Mai kamen dann in den einzelnen Bundesländern die unterschiedlichen Lockerungsgrade der Sicherheitsmaßnahmen. Da sich die Vorgaben nun ständig ändern, ist eine Übersicht dessen, was möglich sein wird und was kommen kann, sehr schwierig. Im Großen und Ganzen möchte die Mehrheit der Häuser mit dem Spielzeitstart im September wieder öffnen. Für die Hygienevorschriften des Proben- und Aufführungsbetriebs wird mit der Politik und den Unfallkassen intensiv an Standards gearbeitet. Die Standards sind hilfreich, da verschiedene Möglichkeiten eröffnet werden, aber bisher sind sie auch ausgesprochen streng und erlauben keine "normale" Arbeit. Das heißt etwa, dass es ein Orchester in Vollbesetzung nur in sehr seltenen Ausnahmefällen geben wird. Vor allem das Chorsingen wird in seiner gewohnten Form sehr lange nicht stattfinden können, hier ist das Problem der Aerosole einfach zu massiv. Auch der Tanz ist stark betroffen. Es wird also eine sehr eingeschränkte Spielzeit werden, mit sehr viel kleineren Formaten, mit weniger Beteiligten, mit einem ganz anderen Programm.

KMN: Und wie wird es im Zuschauer*innenraum aussehen?

MG: Hier gibt es sehr ermutigende Beispiele, etwa aus Österreich und der Schweiz. NRW verzichtet gänzlich auf das Abstandgebot, wenn nachvollziehbar ist, wer auf welchem Platz gesessen hat. Man braucht ein sehr gutes System der Erfassung, und ob das realistisch ist, ist sicher noch zu prüfen. Die Schachbrettlösung, bei der jeder zweite Platz frei bleibt, erscheint uns aktuell sinnvoller. Auch verschiedene Maskenlösungen werden diskutiert. So gäbe es die Möglichkeit, wenigstens zur Hälfte zu bestuhlen. Für die Privattheater und -ensembles ist und bleibt aber selbst solch eine Lösung eine Katastrophe. Denn auch so ist keine kostendeckende Arbeit möglich. Ohne finanzielle Unterstützung werden sie schlicht nicht überleben können. Das ist der Stand der Dinge. Die weitere Entwicklung ist abhängig von der generellen Pandemie-Entwicklung. Leider gehen die Infektionszahlen zurzeit ja auch in Deutschland wieder nach oben.
KMN: Wie wird sich dadurch das Theater- und Orchesterleben auch verändern? Denn das, was Sie schildern, mag eine Spielzeit hinnehmbar sein, aber doch nicht auf Jahre hinaus.

MG: Nein, das wäre eine Horrorvision. Wenn Musiker*innen nicht im Orchester spielen, Sänger*innen nicht im Chor singen, Schauspieler*innen nicht auf der Bühne sein dürfen und Tänzer*innen nicht tanzen können, werden sie ihrer Berufung beraubt. Alles, was ich geschildert habe, kann nur ein Provisorium sein, um Zeit zu gewinnen, gesundheitspolitisch diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Es herrscht immer noch große Unsicherheit, da lange nicht geklärt sein wird, wann und ob überhaupt eine Impfung möglich ist. Das sind Schwierigkeiten, mit denen man umgehen muss. Aber es ist und bleibt essenziell, dass die Künste stattfinden, gerade jetzt. Es darf nicht der Anschein entstehen, sie wären nicht nötig. Dafür muss der Kulturbetrieb kämpfen. Denn die Künste sind für das gesellschaftliche Leben mehr als relevant.

KMN: Heißt das, es geht auch darum nicht in Vergessenheit zu geraten?

MG: Ja, unbedingt. Hat man in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung einmal den Stempel "Das brauchen wir ja doch nicht unbedingt", geraten sie in einen Bereich, bei dem als erster Einsparpotenziale gesehen werden. Natürlich ist es dabei auch ein Wagnis, die aufgeführten Formate - wie geschildert - zu verkleinern usw., denn es kann schnell laut werden, dass eine solche "Verknappung" ja auch reichen würde. Hier müssen wir aktiv das Provisorium kommunizieren und wir dürfen uns nicht selbst abschaffen. Diese Angst herrscht im Kulturbetrieb durchaus.

KMN: Wie versuchen Sie und Ihr Verband hier, Vertrauen in die Konzepte der Theater und Orchester aufzubauen?

MG: Wir begleiten die Erarbeitung der Standards sehr intensiv. Aber wir haben das Problem, das wir noch mit großen Unsicherheiten auf Seiten der Politik konfrontiert sind. Auch dort weiß man noch nicht, wie eine gute Lösung aussehen kann, denn die Situation verändert sich nahezu täglich. Wir versuchen, einen sehr engen Kontakt zu halten. Wir wägen ständig die medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse ab, die immer mehr Wissen über die Erkrankung und deren Übertragungswege liefern. Daraus lassen sich natürlich Schlüsse für die einzelnen Konzepte ziehen. Vor allem die Prüfung der verschiedenen Klima- und Lüftungsmöglichkeiten sind für die Bühnen entscheidend. Mit dem Neustart-Programm fördert die Bundesregierung ja bereits die Anschaffung Corona bedingter technischer Vorkehrungen, die Aufrüstung von Luft- und Klimatechnik gehört grundsätzlich dazu. Wichtig ist: Es wird kein Konzept für alle geben. Jede Bühne ist anders und jedes Mal muss es eine gesonderte Einschätzung geben. Wir haben hier eine neue Rolle bekommen und sind sehr viel mehr vermittelnd und informierend tätig.

KMN: Man kann nun alles auf der technischen Seite tun. Aber die andere Seite sind die Besucher*innen. Werden diese zurückkommen? Das scheinbar sichere Faktum der Tourist*innen wird sich für viele Häuser sicher auch stark reduzieren.

MG: Der Umgang mit den Risiken an sich ist ja keine ausschließlich technische Frage, sondern auch eine kulturelle. Wir können alles tun, das ist unsere Pflicht, die wir auch übernehmen. Aber das "Risiko" schätzt jede*r für sich selbst ein. Es wird ein Ausdruck des kulturellen Umgangs mit einer solchen Pandemie sein. Ob das Publikum das Angebot annimmt oder nicht, wissen wir nicht. Aber wir sehen sehr optimistische Tendenzen. Denn der Hunger nach Kultur ist riesig. Das konnten wir bei dem schnellen Ausverkauf der vielen Freilichtangebote, die stattfinden konnten, sehen. Es wird also ein gemeinsamer Prozess von Bühnen, Politik und Gesellschaft sein, einen Umgang mit der Situation zu finden. Die wegfallenden Tourist*innen und damit die Einnahmeausfälle sind massiv. Das wird natürlich Folgen haben und schwierige Debatten in der Kulturpolitik nach sich ziehen.

KMN: Sie deuten es an: Planungssicherheit ist in hohem Grad auch von der Finanzierung abhängig. Doch kaum einer weiß, wie sich die finanzielle Situation der Kommunen und Gemeinden verändern wird. Wo kein Geld, kann es auch keine "Rettungsschirme" o.ä. geben können….

MG: Diese Planungssicherheit betrifft nicht nur die Bühnen, sondern auch viele andere gesellschaftliche Lebensbereiche, die Wirtschaft, das Gesundheitswesen, den Bildungsbereich usw. Wir werden intensive Verteilungsdebatten bekommen, da schlicht weniger Mittel zur Verfügung stehen. Aufgrund der so genannten "Systemrelevanz" werden wir Unwuchten und Schieflagen bekommen. Und diese auszuglätten wird viel Zeit und Kraft kosten. Das heißt für den Kulturbetrieb aber auch, der Gesellschaft die Relevanz, die Wertigkeit und die Bedeutung der Kultureinrichtungen wieder verstärkt bewusst zu machen. Darauf wird es ankommen. Der Kulturbetrieb muss hier zusammenrücken. Denn was bei all dem nicht vergessen werden darf, es geht nicht nur um die Existenz der öffentlichen Häuser, es geht um viel mehr. Gerade die freie Szene ist in einem vollkommen neuen Ausmaß betroffen. Es wird eine gesellschaftliche Debatte darüber geben, was wir brauchen und was wir uns leisten wollen. Da sind wir gefragt.

KMN: Wird das aber nicht auch neue Strukturen in den Betrieben bedingen?   

MG: Das ist nicht unwahrscheinlich. Niemand kann zurzeit verlässlich sagen, welche Dimensionen diese Pandemie noch annehmen wird und welches Ausmaß die Folgen haben werden. Niemand ist allerdings vor Veränderungen gefeit, auch wir in der Kultur nicht. Es kann zu einer viel stärkeren Diversifizierung im Kulturbetrieb kommen. An vielen Leuchttürmen wird sicher nicht gerüttelt werden. Aber es gibt viele Einrichtungen, für die sich die ohnehin angespannte Situation verschärfen wird. Dass hier Häuser auf dem Spiel stehen, ist nicht auszuschließen. Wir werden uns den notwendigen Debatten engagiert stellen.

KMN: Lassen Sie uns aber doch etwas optimistisch enden: Gibt es einen Hoffnungsschimmer? Muss man nicht nur zurückblicken, sondern tatsächlich auch die Chance eines neuen Kulturbetriebs in den Blick nehmen?

MG: Da haben Sie mich vielleicht missverstanden. Ich wollte gar nicht pessimistisch enden. Diese aufgepfropfte Veränderung ist nichts, über das wir uns freuen können. Aber natürlich kann und muss man diese Situation nutzen, neue Pläne - die es ja gibt - endlich umzusetzen und Veränderungen anzugehen, die längst überfällig sind. Kultur hat die einmalige Chance zu zeigen, was wirklich einen Mehrwert für die Gesellschaft hat. Denn die Gesellschaft spürt, dass ein Umdenken nötig ist, das hat die Krise deutlich gezeigt. Und wir können hier viel anbieten.
 
Dieses Interview erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Sicherheit".

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