10.04.2011

Buchdetails

Entwicklungsfaktor Kultur: Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt
von Gudrun Quenzel
Verlag: transcript
Seiten: 243
 

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Autor*in

Hermann Voesgen
Buchrezension

Entwicklungsfaktor Kultur

Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt.
 
Der Untertitel des Bandes verweist auf eine Einschränkung und eine Erweiterung. Es geht um eine Aktualisierung des Modells der europäischen Stadt. Die Diskussion über eine notwendige Revision dieses Modells durch die Digitalisierung und die außereuropäischen Stadtentwicklungen bleibt somit außen vor. Dieser Eingrenzung steht die Erweiterung der städtischen Kultur für die soziale und insbesondere ökonomische Entwicklung gegenüber. Damit reiht sich der Band in die zahlreichen Veröffentlichungen zum Themenfeld kreative Stadt, creative industries ein.
 
Der Anlass für den Band ist ein Auftrag der Ruhr 2010 GmbH an das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen. Einige Beiträge aus den dazu organisierten Workshops bilden die Grundlage des Bandes. Nach Oliver Scheytt, dem Geschäftsführer der Ruhr2010 GmbH, geht es darum "neue kulturelle Dynamiken ausfindig zu machen" und dabei auch die ökonomische Bedeutung von Kultur zu untersuchen. Oliver Scheytt illustriert in seinem Vorwort die Bedeutung der Ressource Kultur für den Umbau des Ruhrgebiets zu einer "Metropole im Werden".
 
Gudrun Quenzel und Annina Lottermann betonen in ihrer Einleitung den funktionalen Aspekt "von künstlerischer und ökonomischer Innovationskraft und Kulturförderung als wichtige Voraussetzung für das ökonomische Wachstum" (12-13). Dabei wird Richard Floridas Ansatz eines ineinander Greifens kreativer Ebenen und Prozesse, zum Wohl der ökonomischen Entwicklung von Städten, übernommen. Kulturelle Produktivität, verstanden als in Frage Stellen des Bisherigen um Neues zu schöpfen, wird verbunden mit ökonomischen Innovationsprozessen, um die ökonomische Verwertung zu befördern. Man könnte pointieren, es geht weniger um die Erweiterung des Begriffs der kulturellen Produktion als um eine Erweiterung der Wirtschaftsförderung, um neue Wertschöpfungsquellen zu realisieren.
 
Im ersten Teil wird in drei Beiträgen der Zusammenhang zwischen urbaner Entwicklung und Kultur diskutiert. Bernhard Schäfers gibt einen prägnanten Überblick über die europäische Stadtgeschichte und hebt, mit Bezug auf Max Weber, die Besonderheit der europäischen Stadt (Polis und Markt) hervor. Schäfers geht sogar so weit, ästhetische Prinzipien der europäischen Stadt, in Bezug auf öffentliche Räume und Ensembles, als eine gemeinsame Grundlage für die Stadtwahrnehmung und zukünftige Gestaltung zu unterstellen. Die Kulturhauptstadtprojekte sind danach ein wichtiges Vorhaben zur Stärkung der Prinzipen der Stadt, "die Europa erst hervorbringen" (Benevolo), um sie als Orte der postindustriellen Gesellschaften zu positionieren.
 
Damit schafft Schäfers die Begründung für das Festhalten an der europäischen Stadtstruktur, als kreative Orte für die aktuellen Herausforderungen.
 
Der anschließende Beitrag von Albrecht Göschel ist im ersten Teil geradezu ein Einspruch zu Bernhard Schäfers Hervorhebung des Städtischen, als Träger der beständigen Erneuerung. Nicht der Unterschied von Stadt und Land, sondern zwischen Ost und West macht in der Analyse von Göschel die kulturelle Differenz aus. Die Prägung durch 40 Jahre sozialistischen Obrigkeitsstaat seien für die Entwicklungen bzw. Blockierungen in den Regionen Ostdeutschlands bestimmend. Im Gegensatz dazu stellt er die seit den 60er Jahren in Westeuropa wirkende "Kulturrevolution". Die vom "realen Sozialismus" geprägten Alltagskulturen und die nach dem Zusammenbruch folgende ökonomische Krise sind für die aktuellen Haltungen und Handlungen immer noch wirkungsmächtig.
 
Göschel unterscheidet zwischen dem stadtsoziologisch/urbanistischen Ansatz städtischer Produktivität und der Bedeutung von Kreativität für die Wirtschaftsförderung. Letztere meint die Qualifikation von kreativen Berufen, die zur Wertschöpfung beitragen und zusätzliche Werte für das ökonomische Wachstum bieten. Der erste Ansatz betont Dichte und Heterogenität der städtischen Bevölkerung, durch die in fortwährender Beeinflussung und Konkurrenz immer wieder neue Lebensstile und Verhaltensweisen entstehen.
 
Göschel stellt nur in Leipzig kulturelle Produktivität nach beiden Kriterien fest. Hinzu kommen eventuell noch Jena und Dresden. Wie können sich die ostdeutschen Städte aus der ideologischen Langzeitwirkung der DDR lösen? Wie das zu erklären ist, wird nur angedeutet. Interessant wären hier auch historische Bezüge. Bei Leipzig kann man vermuten, dass die lange Geschichte als bürgerliche Handels- und Literaturstadt wieder zum Tragen kommt. Obsiegt also mittelfristig das Städtische über das "Ostdeutsche"?
 
Im Beitrag von Jürgen Mittag und Kathrin Oerters werden Kreativwirtschaft und Kulturhauptstadtprojekte als sich ergänzende Katalysatoren für die ökonomische Entwicklung von altindustriellen Regionen vorgestellt.
 
Dabei sei Kultur sowohl ein weicher wie auch eine harter Faktor der Wirtschaftsentwicklung. Die Kulturhauptstadtprojekte, so die These, haben sich mehr und mehr von der Förderung einzelner Kunstprojekte zum Ausbau von Strukturen weiter entwickelt Besonders in Projekten alter Industrieregionen (Glasgow, Lille, Ruhrgebiet) werden die Kulturhauptstadtjahre zu Impulsgebern für die Kreativindustrien.
 
Gegenüber dieser Engführung zwischen Kultur und ökonomischem Wachstum wird im zweiten Teil (Wissensarchiv Stadt) der Blick auf die Verknüpfung heterogener Wissensbestände erweitert. In dem Beitrag von Gertraud Koch werden Stadträume als sozial-räumliche Zusammenhänge verstanden. Sie sind geprägt durch die Funktionen, die sie im Laufe der Geschichte eingenommen hatten, den Habitus ihrer Bewohner, die "distinkten Geschmackslandschaften" (Christoph Lindner). Die kulturelle Vielfalt ist spätestes seit der Chicagoer Schule ein Definitionsmerkmal moderner Großstädte und wesentliche Bedingung für kreative Dynamik. Kulturelle Vielfalt führt jedoch nicht automatisch zu einem "Cultural Swirl" (Ulf Hannerz). Vielmehr sind Segregation und kulturelle Abschottung in allen europäischen Großstädten zu beobachten. Dagegen sind erfolgreiche Verbindungen von Wissensspeichern zu neuen, transkulturellen Praktiken zu befördern. Kulturelle Vielfalt kann in räumlich-baulichen, sozial-kulturellen und imaginären Ausprägungen produktive Potentiale zum Klingen bringen. Sie müssen aber offen und anschlussfähig sein. Die Wissensspeicher sollten also wie Module (diesen Begriff benutzt Koch nicht) funktionieren. Sie sind aus Zusammenhängen zu lösen, um sie für andere Zusammenhänge verfügbar zu machen. In einem fortlaufenden Prozess von Vernetzen, Herstellen, Einbetten, Übersetzen und Vermitteln, können die Speicher immer wieder aufs Neue kreative Prozesse anstoßen. Es geht, nach G. Koch, um die "Mobilisierung eines in der Regel umfangreichen optionalen Repertoires" (113).
 
In einem weiteren Artikel zum Thema "Wissensarchiv Stadt" stellt Christa Reicher den Prozess der Valorisierung von Industriekultur dar. So kann sie als Impulsgeber der Stadtentwicklung, als Element einer postindustriellen Identität für das Ruhrgebiet und als Faktor für den Kulturtourismus wirken. Interessant ist ihre Gegenüberstellung von Beschleunigung, für die eine Neutralisierung der Traditionen notwendig ist, und auf der anderen Seite dem Bedürfnis nach Langsamkeit, wofür räumlich-bauliche Kontinuität wichtig ist. Die entkernten Hüllen des Industriezeitalters machen die Vergangenheit anschlussfähig und bieten multifunktionale Potentiale für die weitere Beschleunigung.
 
Im letzten Absatz geht es um kulturelle Differenz in der Stadt. In dem sehr differenzierten und anregenden Aufsatz von William Neill und Brendan Murtagh über die Grenzen der Toleranz und die Verhandlung der Differenz wird die Notwendigkeit von verbindlichen Regeln im städtischen Zusammenleben betont. Am Beispiel Nordirland werden die fatalen Folgen einer Toleranz gegenüber sozialer und kultureller Desintegration benannt. Die beiden abschließenden Beiträge sind dagegen enttäuschend. Léonce Bekemans apodiktische Darstellung der "Urbanen Civitas" scheint eher aus dem Zusammenhang proklamatorischer EU-Papiere zu kommen. Warum der Aufsatz von Annina Lottermann über die Geschichte der europäischen Städtepartnerschaften aufgenommen wurde, erschließt sich mir nicht.
 
Mit dem Beitrag Christoph Lindners über das New Yorker Projekt eines Erinnerungs- und Landschaftsparks erweitert sich das Thema "Entwicklungsfaktor Kultur" um kulturwissenschaftliche, philosophische Reflexionen. Die Auseinandersetzung mit der auf Staten Island entstehenden Komposition aus Erinnerung (auf einem Müllberg der Konsumkultur und dem Schutt der Twin Towers) und einem postmodernen Landschaftspark entfernt sich weit von den kulturell-ökonomischen Potentialen der europäischen Stadt, die ansonsten in dem Band verhandelt werden.
 
Positiv könnte man sagen, die Bandbreite der Diskussion ist damit abgebildet. Ein Unbehagen bleibt: Wir haben es immer mehr mit schnell produzierten Zusammenstellungen von Tagungsbeiträgen zu tun, kaum redigiert und ohne reflektierte Nach- und Weiterarbeit. Ist es wirklich sinnvoll (auch selbstkritisch gemeint: der Autor war auch an solchen Projekten beteiligt), auch im Printbereich, wie zunehmend in den digitalen Medien, die Sachen unvermittelt "in die Welt zu setzen"?
 
Um nicht mit dieser Abschweifung zu enden: Erhellend war für mich die (weitgehend fehlende) Frage nach Inhalten oder, altmodisch ausgedrückt, Vorstellungen vom guten Leben in der Stadt. Die "kulturelle Produktivität" wird abstrakt in der Wachstumslogik ausgedrückt.
 
Das gilt bei beiden von Göschel unterschiedenen Ansätzen. Bei der Wirtschaftsförderung mit Kultur sind es natürlich Besucherzahlen und Umsätze. Für den stadtsoziologischen, regional- und kulturwissenschaftlichen Ansatz nennt Gertraud Koch die Schlüsselbegriffe: "Interaktionen, Transformation, Adaption, Übersetzung, Vernetzung und Reibung" (114). Die Inhalte sind Material, Optionen (in der Kunst spricht man gern von interessanten Positionen) für "mögliche Zukünfte".
 
Wie wollen wir in Zukunft leben? Die Verbindung dieser Frage mit den technischen und organisatorischen Möglichkeiten wird uns zunehmend beschäftigen.

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