07.12.2020

Buchdetails

Kritische Kreativität: Perspektiven auf Arbeit, Bildung, Lifestyle und Kunst (Kulturen der Gesellschaft)
von Kim Kannler, Valeska Klug, Kristina Petzold, Franziska Schaaf
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 272
 

Buch kaufen (Affiliate Links)

Autor*in

Birgit Hauska
ist Referentin / Kuratorin für Kulturelle Bildung und Vermittlung von Medienkunst und Film bei der SK Stiftung Kultur. Nach dem Studium der Sportwissenschaften mit Schwerpunkt Tanz und einer Hospitanz bei der Deutschen Welle arbeitet sie für das Deutsche Tanzarchiv Köln als wissenschaftliche Mitarbeiterin und baute dort das Referat für Videotanz/Tanz und Medien auf.
Buchrezension

Kritische Kreativität

Kreative gelten als Pioniere der schöpferischen Phantasie und Leistungsgaranten guter Ideen und Kreativität damit als etwas Positives. Mit dem Kreativitätsimperativ unserer Leistungsgesellschaft ist die freie Entfaltung jedoch zum neoliberalen Zwang geworden. Wie es gelingt, kreativ zu sein und gleichzeitig kritisch zu bleiben, thematisiert "Kritische Kreativität".
 
Wie kritisch kann kreatives Schaffen heute sein?

Der Sammelband, 2019 herausgegeben von Kim Kannler, Valeska Klug, Kristina Petzold und Franziska Schaaf und erschienen bei transcript, basiert auf den Beiträgen und Ergebnissen einer Konferenz. Diese fand 2017 an der Universität Duisburg Essen unter dem Thema "Von der Künstlerkritik zur Kritik an der Kreativität: Subjektivierungen in Forschung und Praxis" statt. Diskutiert werden dabei in der Publikation Kreativitätskonzepte und kreative Arbeit in vielfältigen Bereichen, unter der Fragestellung, wie kritisch kreatives Schaffen heute sein kann. Dabei kommen neben Forscherinnen auch Künstlerinnen und Aktivistinnen zu Wort.

Der Sammelband schlägt vor, von "Kritischer Kreativität" zu sprechen, da eine solche Kreativität die Prämissen der Gesellschaftskritik - Forderungen nach Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung - auf die Bereiche kreativen Handelns und Arbeitens anwendet. Gegliedert ist das 270 Seiten umfassende Buch in die fünf Teile: "Genealogien und Konjunkturen", "Erwerbsarbeit und Kreativität", "Lifestyle und die Ästhetisierung des Alltags", "Kreativität in Bildung und Ausbildung" sowie "Alternativen und Interventionen".   

Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und der Kreativitätsdispositiv

"Die Kultur- und Kreativwirtschaft gehört zu den wachstumsstärksten Branchen der Weltwirtschaft. Damit das so bleibt, müssen die Branche wettbewerbsfähiger und die Erwerbschancen für innovative kleine Kulturbetriebe sowie freischaffende Künstlerinnen und Künstler besser werden", heißt es auf der Internetseite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Mit einem Beitrag von knapp 100 Milliarden Euro an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung in Deutschland übertrifft die Branche wichtige Wirtschaftszweige wie die chemische Industrie, Energieversorger oder die Finanzdienstleistungsbranche. Es zeigt sich, dass sich die Interessen der Wirtschaft durchgesetzt haben. Die ökonomische Triebkraft mit seinen Verwertungsinteressen steht jedoch gegen die Autonomie der Kunst.
Die hinlänglich bekannten prekären Beschäftigungsverhältnisse der Kultur- und Kreativwirtschaft mit ihrer projektbasierten Arbeitsbeziehungen, den Problemen der Sozialversicherung mit den gängigen Statuswechseln zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit werden dabei immer wieder in der Publikation thematisiert. Besonderes Augenmerk liegt dabei zweiten Teil "Erwerbsarbeit und Kreativität". Lisa Marie Basten analysiert dabei "wie durch die regulative Ausrichtung der Gesetze und Förderstrukturen auf das Normalarbeitsverhältnis und durch die parallele Annahme des Sonderstatus kreativer Erwerbsarbeit Letztere prekarisiert wird" und welche Veränderungsmöglichkeiten auf struktureller und individueller Ebene bestehen mit Verweis auf vier Best-Practice-Beispiele.
 
Ebenso zeigt sich, dass "die Zugehörigkeit zur Gruppe der Kreativen unabhängig von realisierten ökonomischen Verwertungsoptionen als alternative Entlohnung akzeptiert wird" (S.91). Die Herausgeberinnen knüpfen dabei u.a. an die Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz an, der die Durchsetzung des Kreativitätsdispositivs eingängig in "Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung." (2012) darstellt. Hier geht es um die Frage, in welcher Weise Kreativität in der Spätmoderne zu einer einflussreichen gesellschaftlichen Erwartung wurde.  Reckwitz’ 2017 erschienenes Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne" konnte von den Autoren in den Quellen und bei der Recherche für den vorliegenden Sammelband leider nicht mehr berücksichtigt werden.

Die Lebensdirektive unserer Gesellschaft ist in vielen Milieus die erfolgreiche Selbstverwirklichung, das meint die Kombination von kreativer Selbstentfaltung und sozialem Status: Erstrebenswert ist vor allem, was einzigartig erscheint, schrieb Reckwitz bereits 2012. Einig sind sich alle Autoren in der Sichtweise auf die gesellschaftliche Herausforderung, das Soziale und das Kulturelle unbedingt zusammen zu denken, um kreatives Schaffen heute und in Zukunft zu gestalten und ursprünglich gesellschaftskritisches Potenzial zuzulassen bzw. zu reaktualisieren. Eine solche Kritische Kreativität bezieht die Forderungen nach "Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung auf die Bereiche kreativen Handelns und Arbeitens" an.

Um die Ursprünge der Kreativität und einen Vorläufer des Kreativitätsdispositivs im 18. Jahrhundert aufzuzeigen, widmet sich Jan Niclas Howe in seinen Beitrag: "Die Anfänge des schöpferischen Menschen" Edwards Youngs vielzitiertem Essay Conjectures und dem "original genius". So untersucht Howe hier in dem Kapitel Genealogien und Konjunkturen Youngs Perspektive unter Bezug auf konkrete Fallbeispiele aus der Gegenwart.
 
"Morgen ist die Frage"

So lautet der Aufdruck auf dem Banner von Rikrit Tiravanijas hoch oben an der Fassade des Berliner Technoclubs Berghain. Es gibt eine Zeit vor und nach Corona - das Virus verändert die Welt und damit auch die Kreativbranche. Die vielen schöpferischen und gestaltenden Menschen wie Autoren, Filmemacher, Musiker, bildende und darstellende Künstler, etc. sind von dem Lockdown und den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in besonderem Maße betroffen. Gab es vor Corona prekäre Arbeitsverhältnisse und dauerbefristete Arbeitsverträge, sind heute die Existenzen der Kreativen im Besonderen gefährdet. Abgesagte Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, abgesagte Festivals, keine Ausstellungen, keine Eröffnungen, keine Auftrittsmöglichkeiten, coronabedingte Reisebeschränkungen. Die Liste lässt sich weiter fortsetzen.

So scheint es zunächst, als sei die Aktualität der "Kritischen Kreativität" von Corona überrollt. Und trotzdem: die Kreativen sind flüssig im Denken und beweglich. Noch nie gab es wohl ein solch geballtes Feuerwerk an Ideen und Erneuerung aus allen Sparten der Kunst und Kreativwirtschaft als Antwort auf den Lockdown. Diese zeigen sich nicht nur im künstlerischen Output, sondern auch in neuen Formaten, um weiterhin der Kreativität ein Podium zu bieten. So ist das Berghain seit September 2020 wieder geöffnet. Allerdings als Ausstellungsort mit "Studio Berlin". Auf Anfrage des Technoclubs hat das Berliner Sammlerpaar fast 200 Kunstwerke in das ehemalige Heizkraftwerk gebracht, finanziert von der Boros Foundation und dem Berliner Senat. Die Schau soll so lange laufen, bis der Clubbetrieb wieder aufgenommen werden darf. Die Club-Mitarbeiter*innen führen jetzt im 15- Minuten Takt durch die Ausstellung, der Eintritt kostet so viel wie eine Clubnacht: 18 ohne und 20 € mit Führung. Der Lockdown ist in vielen der gezeigten Arbeiten das bestimmende Thema. Der Künstler Peter Welz hat seine Fotographie aus dem öffentlichen Raum mit dem gefundenen Satz "Fuck Your Loneliness" vergrößert, aufgezogen und über die Panoramabar des Berghain gehängt.

Kreativität zur Partizipationsförderung

Insgesamt handelt es sich bei kritische Kreativität um einen verdienstvollen wissenschaftlichen Sammelband, der den fachlichen Diskurs fundiert zusammenfasst und darüber hinaus bereichert sowie den Stand der Forschung vor der COVID-19-Pandemie wiedergibt. Allen daran Interessierten sei das Buch zur Lektüre empfohlen. Aktueller denn je scheint die Forderung Kreativität gesellschaftskritisch und politisch zu denken und zu leben.

Besonders gefallen hat mir der Einbezug von konkret künstlerischen und aktivistischen Beispielen und Positionen wie dem Hörstück rainbow is over von Fides Schopp. Es ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet Künstlerin zu sein. Hier collagiert sie eigene Prosa mit Zitaten aus Interviews, Zeitungsartikeln, Literatur. Das Ergebnis ist humorvoll eingängig und komplex mehrdeutig, aber lässt auch die widersprüchlichen Facetten des Künstler und Künstlerinnenstatus sichtbar werden.

Für die Kulturvermittlung ist besonders das Kapitel "Kreativität zur Partizipationsförderung - Der Ansatz einer Bildung zur Innovativität" gegen die wirtschaftliche und neoliberalistische Instrumentalisierung des Kreativitätsbegriffes anzuraten. Dieser steht im Sinne des Humboldtschen Bildungsideal und der kritischen Theorie für eine Bildung der Mündigkeit und des eigenen und kritischen Denkens.

Als Kulturschaffende im Bereich der Kulturellen Bildung & Vermittlung habe ich zu dem Titel gegriffen, um mich mit Kreativität und Darstellung von Kreativitätskonzepten als Akt der Selbstermächtigung und Emanzipation auseinanderzusetzen. Denn letztendlich gehört das Bedürfnis, sich kreativ künstlerisch auszudrücken, in allen Gesellschaften zum Menschsein dazu.  Und das bleibt auch in Krisenzeiten so.

Bücher rezensieren

 
Möchten auch Sie Bücher für Kultur Management Network rezensieren? In unserer Liste finden Sie alle Bücher, die wir aktuell zur Rezension anbieten:
 
Schreiben Sie uns einfach eine Mail mit Ihrem Wunschbuch an
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB