23.10.2020

Buchdetails

Sorge um das Offene: Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (Recherchen)
von Julius Heinicke
Verlag: Theater der Zeit
Seiten: 260
 

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Autor*in

Regina Stöberl
studierte Musikwissenschaften und Kulturmanagement. Als freiberufliche Kulturmanagerin ist sie derzeit im Bereich der Neuen Musik und für neue Formen des Musiktheaters tätig. Zuvor arbeitete sie in verschiedenen Positionen an süddeutschen Theater-, Oper- und Konzerthäusern, war Stipendiatin der Akademie „Musiktheater heute“ und Gründungsmitglied des Netzwerks Kultur-und Musikmanagement der Hochschule für Musik und Theater München.
Buchrezension

Sorge um das Offene: Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater

Rassismus, Blackfacing, Kolonialismus, die Privilegien von männlich-weiß-hetero. Es sind die Themen der Gegenwart, die Autor Julius Heinicke von verschiedenen Disziplinen in "Sorge um das Offene" her angeht. Dabei will er Kulturelle Vielfalt im und mit Theater im Kern verhandeln und betrachtet dafür die Theaterlandschaften Deutschlands und Südafrikas.
 
Gegenpole? Südafrika und Deutschland: Kulturelle Vielfalt philosophisch, theaterpraktisch und kulturpolitisch

In der Publikation, die 2019 bei Theater der Zeit erschien, stellt Julius Heinicke in seiner Recherche zum Thema "Kulturelle Vielfalt" die Theaterlandschaften beider Nationen gegenüber und vergleicht diese inhaltlich sowie strukturell. Am Ende stellen sich gerade die Unterschiede als wesentliche Gemeinsamkeit heraus: Allein historisch gesehen, stehen sich hier zwei Nationen gegenüber, die mit dem Topos der kulturellen Vielfalt  Fortschritte machen wollen, aber immer wieder in alte Muster zurück zu fallen drohen. In Südafrika kämpft man noch und wieder gegen die Apartheid und in Deutschland verstärken sich rassistische Gesinnungen und fehlende Toleranz.  

Heinicke untersucht dabei, ob Theater als Plattform und Vermittler*in für kulturelle Vielfalt taugt. Er schaut durch die Hegelsche Brille der "Vorlesungen zur Ästhetik" und der Abhandlungen zu "Herrschaft und Knechtschaft" und nimmt sich Achille Mbembes "Kritik der Schwarzen Vernunft" vor. Um den wissenschaftlichen Kontext durch Praxisbeispiele greifbarer zu machen, pickt der Autor sich Häuser (Berliner Gorki-Theater), Festivals (u.a. Männlich-Weiß-Hetero, Harare-Festival) und Stücke (u.a. Die Schutzbefohlenen, Mistral) heraus, die zeigen, wie im Moment Theater umgesetzt wird.
 
Dass es dabei auf beiden Seiten Aufholbedarf gibt, ist sofort klar. Wieso werden Flüchtlinge in Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen", einem Stück, das im Text die Fäden der Kulturen zu verweben versteht, auf der Bühne nicht mit Schauspielern, sondern mit Flüchtlingen und damit "darstellungsrassistisch" (Franz Wille) besetzt? Beeinflusst die alte "westliche" Welt die Afrikanische Welt überproportional oder nicht und wo  ist die Balance zu suchen zwischen Fremdheit und Ähnlichkeit aus beider Sicht? Wie geht das südafrikanische Theater mit den Einflüssen seiner vielen Gesellschaftsgruppen um - spiegelt es die unterschiedlichen sozialen Verhältnisse der Gesellschaft wider oder spielt es sich auf der Bühne frei von den vielen Vorurteilen? Und: Ist Deutschlands Theaterwelt viel zu einseitig und elitengeprägt, um sich für kulturelle Vielfalt zu öffnen? Heinicke stellt die genannten Paare aus verschiedenen Disziplinen auf, um sich dem Thema zu nähern. Die Ausführung mündet schließlich in der nationalen und internationalen Kulturpolitik, welcher Heinicke Handlungsempfehlungen gibt, wie sie die Verhandlungen um kulturelle Vielfalt vorantreiben kann.
Der Regenbogen wird noch gemalt - über Lerneffekte

Schon das Titelbild unterstreicht, wo Heinicke seine Aussage verortet. Die Regenbogenfahne, Sinnbild für Vielfalt wie etwa der LGBTQIA+-Bewegung sowie der Rainbow-Nation Südafrika, ist noch nicht fertig gemalt. Sie befindet sich im Prozess, ist sichtbar, aber nicht vollzogen. Und genau das sagen aktuelle gesellschaftliche Diskurse, die uns seit Jahren begleiten und im Zuge der Black lives matter-Bewegung während der Corona-Krise endlich mehr Raum gewinnen konnten: Wissen wir genug über Rassismus und was macht uns selbst rassistisch gegenüber anderen? Haben wir den Kolonialismus wirklich hinter uns gelassen bzw. uns genug mit ihm auseinandergesetzt? Wie gehen wir mit dem "Offenen", dem "Ungewissen" um? Versuchen wir Gemeinsamkeiten zu finden, oder nähern wir uns über die Unterschiede an?

Heinicke beginnt dazu mit dem kolonialen und allgemein gesellschaftlichen Phänomen der "Herrschaft und Knechtschaft". Dieses besagt bekanntlich, dass der Herr nur so lange Herr sei, wie der Knecht sich als Knecht einordnet und dies zulässt. Nicht aus allen Schichten unseres Bewusstseins ist das Herr-Knecht-Prinzip verschwunden, oder wegzudenken, schon gar nicht aus allen Systemen, die wir Menschen uns im Laufe der Zeit aufgebaut haben. Auch die Theaterwelt hierzulande kämpft gegen die Auswirkungen (z.B. art but fair, derzeit auch krea[k]tiv). Dabei zeigt sich vor allem mit Blick auf Südafrika, das kaum feste Strukturen innerhalb des Theaterkosmos aufweist, dass hauptsächlich Festivals das Offene, Ungewisse und auch das Scheitern zulassen. Klar ist: Wir lernen mehr denn je, aber weise sind wir noch lange nicht.

Harte Verhandlungen mit hoffnungsvoller Aussicht

Leicht gemacht wird es dem*r Leser*in nicht, denn die Ausführungen zu Hegels Ästhetik und der "Herrschaft-Knechtschaft"-Thematik verlangen Vorwissen. Auch Achille Mbembe will aufgrund der aktuellen Schlagzeilen möglichst neutral und vorurteilsfrei aufgenommen werden. Julius Heinicke verarbeitet für die philosophische Darstellung aus afrikanischer Sicht dessen etabliertes Standard-Werk "Kritik der schwarzen Vernunft", in der auch der Titel-Aufhänger steckt: "Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene - was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist. Diese Form der Entähnlichung ist das genaue Gegenteil der Differenz." (MBEMBE 2014: S. 332).

Die für Nicht-Wissenschaftler nicht mühelos zugänglichen Theorieteile werden auflockernd anhand von ausgewählten praktischen Beispielen veranschaulicht. So sieht Heinicke etwa die Produktionen des Berliner Gorki-Theaters als richtungsweisend für ein sich Freispielen außerhalb der Schubladen, die HAU-Produktion "Orpheus in der Oberwelt" als Beispiel für asymmetrische philosophische Ästhetik oder die Erfolgsproduktion "Verrücktes Blut" (Ballhaus Naunynstrasse/ Gorki Theater) als Verknüpfung von Theaterästhetik und Pädagogik. Als Beleg für die zunehmend sozial-gesellschaftliche Verhandlung von Theater nennt Heinicke das Harare-Festival in Zimbabwe, das zugleich Rettungsanker für freie Meinungsäußerung und Plattform für afrikanische wie internationale Künstler auf gefährlichem Terrain zwischen politisch gewollter "Africanitá" und kritischem Afropolitism ist.

Zugegeben, es klingt zunächst anstrengend, wenn schon ein Titel von "Sorge" und "Verhandlungen" spricht. Im Laufe der Lektüre ändert man jedoch diese Haltung grundlegend, denn am Ende steht da mehr "Fürsorge" und die Verhandlungen erweisen sich als DAS unverzichtbare Vehikel, um zukünftige Wege in der gegenwärtigen Diskursfülle einschlagen zu können und mit der Kulturellen Vielfalt weiterzukommen. Heinicke gelingt das überzeugend, indem er oft die zwei Seiten der Medaille darlegt.

Handlungsempfehlungen für Kulturpolitik

In die Überlegungen und Empfehlungen, wie mit dem Thema Kulturelle Vielfalt und (Für-)Sorge um das "Offene" kulturpolitisch umzugehen sei, steigt Heinicke mit dem bekannten Problem der Eliten im öffentlichen Theaterleben ein. Er konzentriert sich dabei schnell auf das kulturelle Förderwesen. Seine Handlungsempfehlungen werden zum Teil schon länger gegenwärtig umgesetzt, sowohl im öffentlichen Bereich als auch im Bereich der freien Szenen und übergreifend. Zusammenfassend bieten die Punkte allerdings die Essenz der aktuellen Kritik:
 
  • Die Entscheidungsprozesse sollten durch Theaterbeiräte auf Bundes-, Landes- und Kommunal-Ebene - gestützt von digitaler Erfassung der Meinung des Bevölkerungsquerschnitts - entstehen, also nicht zu individuell.
  • Die thematische Zusammenarbeit der Theatermacher mit den Regionen sollte ausgebaut werden.
  • Bundes- und Landes-Förderungen sollten sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Zudem sollte es mehr übergreifende Förderungen für Kooperationen zwischen freien Gruppen und öffentlichen Institutionen geben.
  • Die Auswahlverfahren an Kunsthochschulen sollten diverser sein und im Grunde sollte es eine Aktualisierung der Grundsatzdebatte für Kulturelle Vielfalt geben.

Auch für die internationale Kulturpolitik stellt Heinicke Empfehlungen auf und verlangt unter anderem eine kulturpolitische Agenda für Kulturelle Vielfalt sowie die kritische Auseinandersetzung und Neubewertung auch der Wissenschaft zu dem Thema.

Für Leser*innen, die Gegenwart verstehen und Zukunft mitgestalten wollen

Heinicke zeigt mit seiner Publikation einen großangelegten Weg zur Kulturellen Vielfalt auf, den er zielsicher zu beschreiben und zu weisen imstande ist. Er fordert seine Leser*innen heraus, führt sie aber auch ans Ziel.

Empfehlenswert ist das 250-seitige Werk darum auch für gleich mehrere Berufsgruppen. Die wissenschaftliche Herangehensweise dürfte vor allem Geisteswissenschaftler mit Interesse an den darstellenden Künsten ansprechen. Aus der Theaterpraxis findet der Band Anklang bei Theaterschaffenden, Kulturpolitiker*innen, Jury-Mitglieder*innen sowie Fördergeber*innen und -nehmer*innen. Generell richtet sich "Sorge um das Offene" aber an alle, die sich für die Weiterentwicklung im Umgang mit kultureller Vielfalt im und mit Theater nicht nur oberflächlich interessieren, sondern sich ein Fundament aufbauen möchten, um dazuzulernen und die Zukunft selbst mitgestalten zu können.  

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