14.07.2021

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Autor*in

Reimar Walthert
ist Physiker, Musiker und Musikwissenschaftler. Er hat in Freiburg, Bern und Sankt Petersburg Orchesterdirektion studiert und ist musikalischer Leiter der Freilichtbühne Burgäschi. Als Kulturmanager (EMAA Uni ZH) arbeitet er im Kulturmarketing, wo er sich vor allem auf Publikumsanalysen spezialisiert hat.
Buchrezension

Theater in der Provinz

Ist die Provinz ein kulturloser Ort, der mit staatlichem Versorgungsauftrag aus seiner Tristesse erlöst werden muss, oder ein Ort von Innovation und kultureller Teilhabe, der dem Theaterschaffen neue Impulse gibt? Die Memminger Tagung hat sich dieser Frage gewidmet und ihre Antworten im Sammelband "Theater in der Provinz" veröffentlicht.
 
"Theater in der Provinz" ist die Abschlusspublikation eines wissenschaftlichen Symposiums vom Frühjahr 2018, zu dem das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und das Landestheater Schwaben nach Memmingen geladen hatten. Die Verschriftlichung der Tagungsvorträge liefert interessante Einblicke zum Thema und ist 2019 bei transcript erschienen. Herausgegeben wurde der Band von Katharina M. Schröck, Silvia Stolz und Wolfgang Schneider. Der Natur solcher Sammelpublikationen entsprechend, sind die verschiedenen Aufsätze zwar thematisch in vier Hauptteilen zusammengefasst, bilden aber jeweils für sich selbst eine Einheit. Es lohnt sich daher, etwas ausführlicher auf die Inhalte der einzelnen Aufsätze einzugehen.

Teil 1: Impulse zur Kultur im ländlichen Raum

Der erste Teil enthält die Impulsreferate zur Theaterkultur im «ländlichen Raum» und analysiert den Ist-Zustand. Beate Kegler definiert dazu zunächst den "ländlichen Raum" und gibt einen ersten Überblick zum Theaterschaffen in der Provinz: Aufgrund fehlender kulturpolitischer Förderung lebt dieses oft vom Ehrenamt und versteht kulturelle Teilhabe nicht bloß als theoretisches Konstrukt, sondern als gelebte Praxis.

Daran anknüpfend geht Thomas Renz näher auf den Begriff "kulturelle Teilhabe" ein. Nach seiner Begriffsdefinition erläutert er, warum sie Legitimation und Emanzipation verstärkt und auch aus ökonomischer und künstlerischer Sicht erstrebenswert ist. Er plädiert dafür, kulturelle Teilhabe nach quantitativen Maßstäben zu messen, weil sich Qualität und Quantität nicht widersprechen müssen und weil die Messung nach qualitativen Maßstäben in der Regel problematisch, weil nicht objektiv ist. Erfolgreiche kulturelle Teilhabe kann Zugänge zum Theater kreieren, die eine bloße Pflege des klassischen Repertoires - und sei sie noch so qualitativ hochstehend - niemals leisten kann. Dem gegenüber gestellt entstehen durch kulturelle Teilhabe im Idealfall Produktionen mit einem starken Bezug zur lokalen Bevölkerung und einer dementsprechend hohen Relevanz.

In einem zweiten Teil widmet sich Renz grundsätzlichen Problemen des Theaters im ländlichen Raum. Dazu gehören neben mangelnder kultureller Infrastruktur auch fehlendes Interesse aufgrund fehlender Zugänge. Besonders problematisch ist in dieser Hinsicht der Mangel an Angeboten für Kinder und Jugendliche. Zwar kann Theaterpolitik allein Probleme wie Bevölkerungsschwund oder weniger Freizeit von Jugendlichen nicht lösen, doch wäre es schon hilfreich, wenn die Förderpraxis weniger an den Problemen des ländlichen Raums vorbeizielen würde, weil sie größtenteils für urbane Räume konzipiert ist.

Katharina M. Schröck befasst sich darüber hinaus mit der Zukunft der Landesbühnen und spricht viele ihrer Probleme an. Dazu gehören laut Schröck nicht nur der eigentlich kulturimperialistische Leistungsauftrag der Versorgung der Provinz mit Theater, sondern auch die fehlenden Ressourcen, die das Ideal einer teilhabeorientierten Produktion ermöglichen würden. Zudem würden Projekte und Programme mit Einbezug nicht-professioneller Mitwirkenden oft als nicht-künstlerische Arbeit abgetan, was eine grundsätzliche Neuorientierung verhindere. Das Amateurtheater in der Provinz brauche keine Erlöser in Form professioneller Theater mit hehren Absichten, die Menschen vor Ort zu bereichern.

Silvia Stolz analysiert den Markt der Gastspieltheater. Ihr Artikel enthält strukturelle Zahlen zu Theatern und Standorten. Sie bringt Ordnung in den Reigen der Gastspielanbietenden, zu denen Tourneetheater, Privattheater, Landesbühnen, freie Theater, Agenturen und Eigenproduktionen von Stadt- und Staatstheatern gehören. Dabei bemängelt sie, dass sich die Qualität eingemieteter Amateurtheater der Kontrolle der Gastspielhäuser entziehe und beklagt sich über die Privattheater, unter denen es zwar Produktionen hoher Qualität gebe. Aber es gebe auch schlechte Produktionen, semiprofessionelle Aufführungen, inhaltliche Leichtgewichte und unseriöse Angebote, die dann doch von Gastspielveranstaltern engagiert würden. Diese etwas unterschwellige Verurteilung semiprofessioneller Produktionen erscheint mir dann doch etwas problematisch. Wären nicht gerade diese im Sinn der kulturellen Teilhabe zu fördern? Sind diese Äußerungen nicht gerade ein Beweis für den von Schröck beklagten Kulturimperialismus?
Teil 2: Reflexionen zum Theater in der Provinz

Der zweite Teil des Buches reflektiert den im ersten Teil beschriebenen Ist-Zustand und versucht, mögliche Handlungsfelder aufzuzeigen. Wolfgang Schneider erläutert dabei zunächst die Missverhältnisse der heutigen Förderpolitik, die vor allem Großstädte und große Institutionen fördert und somit einen Großteil des relevanten Theaterschaffens im ländlichen Raum ignoriert. In seinem Plädoyer für die Provinz fordert er von Seiten der Kulturpolitik einen Fokus auf den Aspekten Projektförderung, Förderung von Kooperation als Format und Publikumsorientierung. Denn Theater sei für alle da und kulturelle Teilhabe habe auf dem Land mit seiner reichen Amateurtheaterszene einen ganz anderen Stellenwert. Theater in der Provinz leiste Dinge, die ein Stadt- oder Staatstheater nie leisten könne, weil es Bottom-up und nicht Top-down sei, weil es ihm um die Arbeit mit Menschen und nicht um kulturpolitische Vorgaben gehen, und weil es in Nachhaltigkeit und nicht in vorrübergehende Großprojekte investiere.

Julius Heinicke äußert sich des Weiteren zu Chancen und Freiräumen, die sich dem Theaterschaffen in der Provinz darbieten. Diese seien eine starke regionale Verbundenheit und die Befreiung von gewissen Sachzwängen wie Reglementierungen und Erfolgsdruck. Leider würden diese hervorragenden Projekte nur selten den Schritt in die Stadt finden, selbst wenn sie von Landestheatern initiiert würden. Schuld daran sei nicht etwa ihre Qualität, sondern gerade ihre erfolgreiche lokale Verankerung. Für das Berliner Theatertreffen eigne sich dieser Ansatz nicht, und er widersetze sich auch der normativen Kraft der wenigen Schauspielschulen, die eher Einheitsbrei statt Vielfalt förderten.

Manfred Jahnke fordert einen Paradigmenwechsel in der Provinz. Dabei stellt er einmal mehr den etwas kolonialistisch anmutenden Auftrag der Landestheater, Kultur aufs vermeintlich kulturlose Land zu bringen, infrage. Er fordert Kooperationen mit vor Ort befindlichen Schulen, Dorfbibliotheken, Ablegern von Volkshochschulen, Vereinen und Amateurtheatern. Als gute Beispiele beschreibt er zwei kooperative Fördermodelle wie das TRAFO-Programm der Kulturstiftung des Bundes und das Programm "Wege ins Theater". Während TRAFO die Kooperation mit schon vorhandenen künstlerischen Aktivitäten sucht, geht es bei "Wege ins Theater" darum, Kinder und Jugendliche erst dafür zu interessieren.

Teil 3 & 4: Diskurse der Akteure zum Theater der Region und Positionen der Praxis in der Theaterlandschaft

Während sich die zwei ersten Teile der Publikation dem Phänomen Theater in der Provinz eher von theaterwissenschaftlicher Seite nähern, sind die letzten beiden Teile des Buches der Praxis gewidmet. Zu Wort kommen verschiedene Protagonist*innen und Akteur*innen die sich mit viel Engagement und Herzblut den Theatern im ländlichen Raum verschrieben haben.

Relevante Organisationen wie die INTHEGA, die Landestheater oder Publikumsorganisationen werden vorgestellt. Spannend sind dabei die vielen gelungenen Beispiele theatralen Schaffens im ländlichen Raum. Dazu gehören etwa der Theaterzug des letzten Kleinods, der von Geestenseth aus den Schienen der Deutschen Bahn folgt, oder die reiche Amateurtheaterszene Baden-Württembergs. Man ist beeindruckt, wie das Großstadtpublikum nach Melchingen ins Theater Lindenhof pilgert und wie in Fürth, an der Uckermärkischen Bühne Schwedt, in Thüringen und am Landestheater Dinslaken trotz suboptimaler Umstände qualitativ hochstehendes Theater mit hoher Relevanz zustande kommt. Kulturelle Teilhabe wird großgeschrieben, wenn LIGNA in Bad Orb mit Schulklassen "Radio Orb" ins Leben rufen oder «Gefährliche Liebschaften» in Seefeld einen Ball mit inszenierter Schlägerei und Feuerwehreinsatz veranstalten.

Fazit

"Theater in der Provinz" ist eher nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern als eine Art Auslegeordnung der betroffenen Organisationen, Verbände, Akteurinnen und Akteure des Theaters im ländlichen Raum zu verstehen. Mit der Gliederung in gut verdauliche Kapitel eignet sich der Band auch als etwas anspruchsvollere Nachttischlektüre.

Wer eine fundierte kulturwissenschaftliche Betrachtung der Thematik und aussagekräftiges Zahlenmaterial in diesem Buch erwartet, wird enttäuscht. Zwar erfährt man, dass sich rund 2/3 aller Theater in Großstädten befinden, während dies nur für rund 1/3 der Bevölkerung zutreffe. Trotzdem flössen rund 90% der Kulturförderung von Bund, Ländern und Kommunen in die großen Städte und davon wieder rund 90% in die großen Institutionen. Man würde sich von einer derartigen Publikation etwas mehr gesicherte Daten als Diskussionsgrundlage wünschen.

Dagegen ist die auf den ersten Blick etwas eklektisch anmutende Sammlung gelungener Beispiele und Argumente für das Theaterschaffen abseits der großen Städte in Teil drei und vier durchaus lesenswert. Die im zweiten Teil "Reflexionen" aufgegriffenen Kritikpunkte an der aktuellen Förderpraxis machen "Theater in der Provinz" zu einer Pflichtlektüre der Kulturförderung. In der Praxis dürfte der Band aber auch als Inspirationsquelle und Argumentationshilfe für im ländlichen Raum tätige Theaterschaffende dienen.
 

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