11.09.2019

Buchdetails

Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18: Welt. Kultur. Politik. - Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung
von Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel, Wolfgang Hippe, Norbert Sievers
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 520
 

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Autor*in

Regina Stöberl
studierte Musikwissenschaften und Kulturmanagement. Als freiberufliche Kulturmanagerin ist sie derzeit im Bereich der Neuen Musik und für neue Formen des Musiktheaters tätig. Zuvor arbeitete sie in verschiedenen Positionen an süddeutschen Theater-, Oper- und Konzerthäusern, war Stipendiatin der Akademie „Musiktheater heute“ und Gründungsmitglied des Netzwerks Kultur-und Musikmanagement der Hochschule für Musik und Theater München.
Buchrezension

Welt. Kultur. Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung

Wenn territoriale Grenzen verschwimmen, wird Kultur peu a peu zur internationalen Angelegenheit. Dass dieser Wandel nicht leicht zu vollziehen ist, sondern ausführlich debattiert werden will, liegt auf der Hand. Welche aktuellen Perspektiven die Kulturpolitik dabei betrachten und diskutieren muss, zeigt das Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18 - Selbstkritik inklusive.
 
Keine Lösung, aber Spektren

Als Erweiterung zum Bundeskongress "Welt.Kultur.Politik. Kulturpolitik und Globalisierung" der Kulturpolitischen Gesellschaft (Herausgeber) und der Bundeszentrale für politische Bildung von 2017 geht es in diesem Jahrbuch darum, die Rahmen-Tendenzen aufzuzeigen, innerhalb derer sich die Weltkulturpolitik aktuell bewegt. Der Ende 2018 im transcript Verlag erschienene Sammelband zeigt dazu Haltungen, Statistiken sowie institutionelle und individuelle Versuche, geht von der Region ins Land in den Kontinent in die Welt und wieder zurück. Er streift die kulturelle Gegenwart in ihren wirtschaftlichen, künstlerischen, politischen und ökologischen Anteilen. Der Blick der Spezialisten reicht dabei von den frühen Ausführungen de Tocquevilles und Adam Smiths zum Übergang vom Wirtschaftswachstum hin zum kapitalistischen Individualismus als Gesellschaftsmodell bis hin zu Visionen und Utopien etwa einer EU-Strategie für auswärtige Kulturpolitik.

Trans-, multi-, inter-, hyper-kulturelle Tendenzen

Bei 400 Seiten voller verdichteter Aufsätze muss man mit Stichworten arbeiten. Bereits in der Einleitung fällt der 1963 von Carl Friedrich von Weizsäcker geprägte Begriff der Weltinnenpolitik, von der man heute eher als von nationaler Außenpolitik sprechen müsste. Denn Kulturpolitik im Außen sei Weltpolitik im Inneren. Und damit haben wir es de facto zu tun. Wie selbstverständlich werden zudem die Partikel trans-, multi-, inter- und hyperkulturell verwendet, dies jedoch bisweilen undefiniert und beliebig wirkend, was das Lesen bisweilen leicht irritiert.
Sehr deutlich kann man dagegen Positionen und auch bewusste Positionsvermeidungen erkennen: Manche Autoren schreiben bewusst pro Öffnung der Kulturen, manche bewusst dagegen. Manche wiederum legen sich bewusst nicht fest, was ihre Argumentationen ins Leere laufen lässt, wofür sie dann gelegentlich im Verlauf des Sammelbandes angegriffen werden. B So ruft Oliver Scheytt bereits im Vorwort unter anderem zur Weltvernunft auf, erinnert an das, was Demokratie ausmacht und an die Notwendigkeit des Dialogs. Bekannte Gegenüberstellungen von Nationalisten, die sich auf ihr eigenes Land und noch bestehende nationale Grenzen und Identitäten konzentrieren und Kosmopoliten, die sich als grenzenlose Weltbürger verstehen und einer Kultur der Vereinigung vieler Kulturen folgen, um sich eine eigene Identität zu bauen,  durchbricht Julian Nida-Rümelin, indem er die Perspektive der globalen Großkonzerne hinzunimmt, die als zentrale Akteure des Weltgeschehens die Rolle der Staaten zurückdrängen. Nicht nur der Mensch selbst, auch seine Unternehmen positionieren sich.

Kulturpolitik = Identitätspolitik - oder eben nicht?

Damit gelangt man geradewegs zur Identitätsfrage: Wer sind wir, wenn alles verschwimmt, und was kann Kulturpolitik da bewirken? Nachdem die "Pandora-Büchse der globalen Valorisierungskonflikte (= der Kultur) geöffnet ist" (Andreas Reckwitz, S. 90), müsse man sich arrangieren. Eine Möglichkeit wäre die "Befreiung vom Identitätszwang", von der Albrecht Göschel in einem der Schlüsselartikel der Debatte spricht.  All die Widersprüche, den Wandel von Wertvorstellungen und seine Konsequenzen solle man eher als Ressource sehen als in einer starren Identitätsvorstellung.

Dass Identität ohnehin höchst fragil ist, zeigt der Sammelband am Beispiel der Entwicklungen des Berliner Bode-Museums im Umgang mit dem Thema Kolonialismus. Das Museum zeigt hierbei auf, wie sich islamische, byzantinische und mittelalterliche Kunst und Kultur durchdringen und somit eine gesetzte Identität per se fraglich erscheinen lassen. Daneben wird das Projekt Citizens for Europe als Handlungsmethode im Umgang mit Diversität vorgestellt, womit die Identitätsdurchdringung lern- und erfahrbar wird. Ob eine gesetzte Identität wirklich notwendig ist, stellt auch Kunstpädagoge Ansgar Schnuur infrage. Dazu analysiert er  "das nicht genau Identifizierbare" anhand von zeitgenössischen Kunstfotografien , die ein orientalisches Ritual mit ethnisch unterschiedlichen Akteuren an einem altgriechischen Ort mit Motiven einer epochal jüngeren europäischen Kunstgeschichte in Szene setzen. Die kulturelle Intelligenz (Begriff aus der Wirtschaft), die Identität vereinfachen soll, scheitert hier. Eine einfache Einordnung ist unmöglich und auch unnötig.

Einspruch gegen diese Betrachtungsweise und den sehr offenen Umgang mit Identität erhebt in dem Kapitel Harald Welzer (FUTURZWEI), der sich Tacheles und eine klare Positionierung im Handeln wünscht: Reicht es, nur die kulturellen Etats zu erhöhen? "Nein", ist die Antwort, nicht nur von Thomas Krüger, der auch davon spricht, dass die Kulturpolitik, um weiterzukommen, bestimmte Vorgänge und Verhaltensweisen verlernen müsse, um für Neues offen zu werden.

Kulturvermittlung und Kulturmanagement zwischen den Welten

Wer sich Tacheles wünscht und weiterkommen will, muss aber auch offen für die damit verbundenen Herausforderungen sein und ebenso einen realitätsnahen Blick bewahren. Johannes Ebert (Goethe-Institut) fordert dazu ganz pragmatisch: "Wir müssen es aushalten, dass bestimmte Konflikte bestehen bleiben und sich nicht alles in Harmonie auflöst." Der Bereich Kultur im EU-Parlament in Brüssel zeigt in einem eigenen Beitrag dazu passend seine Vision für internationale kulturelle Beziehungen auf: demokratisch, postkolonial, menschenrechtsbasiert, an Diversität orientiert, flexibel in der Umsetzung, Raum für Beteiligung von Ländern, Kulturschaffenden und Zivilgesellschaft, die EU als Koordinatorin und Komplementär-Wesen. Dass es jedoch mit dem Aushalten von Konflikten nicht einfach getan ist, macht der European Cultural Foundation-Direktor Gottfried Wagner mit seinen kritischen Thesen deutlich: Er spricht dabei die durchaus konfliktreiche Rolle Deutschlands auch aus kulturpolitischer Sicht an, dessen hegemonialer Stand im internationalen Gefüge, das Image, die Vergangenheit und den Hang zur Überheblichkeit. Darüber hinaus beklagt er auch Europas "immer noch"- Trägheit im Bürokratiewahnsinn sowie die Debatte um den grünen Kapitalismus. Europa und allen voran Deutschland als "hegemonial moderner Prototyp" seien gefangen in den Zwängen des kapitalistischen Systems und verhindern so die notwendige Transformation hin zu einer Erweiterung der Denk- und Handlungsräume.

Wie handeln?

Es folgt ein Switch zurück auf die kommunale Ebene, der anhand verschiedener Beispiele zeigt, was innerhalb des Landes passiert. Christian Esch beschreibt dabei, wie internationale Kultur in NRW geht, Nürnberg wird laut Norbert Schürgers transnational und ein eigener Beitrag widmet sich den Vorhaben und Agenden des Städtenetzwerks EUROCITIES . Demgegenüber macht die Nachschau zum Kongress von 2017 deutlich, wie wichtig der internationale Austausch ist, um bei Kongressen nicht nur eine nationale Binnensicht auf das kulturpolitische Geschehen zu bekommen, sondern weltweiten Perspektiven Gehör zu verschaffen. Überhaupt werden auf diesen letzten Seiten des Fließtextes viele Ideen zur Anregung gegeben, "etwas zu tun". Spätestens wenn Birgit Mandel dazu auffordert, die "Grenzen eines homogenen Kulturverständnisses zu überwinden" (S. 341 ff.), ist endgültig beim Leser angekommen, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen werden muss.

Vom Mut zur Selbstkritik der Kulturpolitik

Beim ersten Lesen erschließt sich zunächst noch nicht unbedingt, dass dieser Band immer wieder These mit Antithese verknüpft. Das Bild entsteht in der Kompensation. Die Kulturpolitik möchte nicht bloß aufzählen, sich nicht nur selbst ins beste Licht rücken, auch wenn das in den einzelnen Vorträgen bisweilen sehr stark durchscheint. Im Gegenteil erfährt man durch die Aufarbeitung des Bundeskongresses von 2017 eine Art Selbstreflexion der Kulturpolitik. Diese fällt allerdings sehr theoretisch aus und oft "durch die Blume". Zusammenfassend kann man sagen, dass die Beiträge des Jahrbuchs zwar viele Anregungen, Versuche und Möglichkeiten aufzeigen, das Neue anzustoßen.  Am Ende fischen aber doch alle zusammen im Trüben. Dennoch wird deutlich, dass die Zeichen auf Veränderung stehen. Der Hilfeschrei an alle Kulturschaffenden lautet, und das springt einem in diesem Jahrbuch unweigerlich entgegen: Macht was!

Keine "Kulturpolitik für Eilige"

Zu empfehlen ist die Lektüre allen, die sich mit internationaler Kulturpolitik und den Auswirkungen der Globalisierung auseinandersetzen wollen. Es ist mitnichten eine "Kulturpolitik für Eilige" zu erwarten. Für Theoretiker ist vielleicht nicht genug Tiefe gegeben, für Praktiker fast schon zu viel - wobei man zwischendurch, sofern zahlenaffin, immer mal wieder zu den aktuellen Zahlen des Kreativwirtschafts-Zahlen-Guru Michael Söndermann blättern kann. Endlich führt er auch die Kleinstunternehmer in seinem Kanon auf und rückt damit der Realität wieder ein Stück näher. Zahlen zur Partizipation in Deutschland (Karl-Heinz Reuband) sowie die Aktivitäten-Chronik und eine Institutionen-Übersicht samt Ansprechpartnern gibt es inklusive. Es mutet heute in der Tat ein bisschen befremdlich an, eine solche Datenmenge noch auf Papier vor sich liegen zu haben. Neben diesen gut 500 Seiten Papier hat man mit dem Kompendium aber noch etwas anderes in der Hand: eine Momentaufnahme in einem singulären Veränderungsprozess, der eine Chance sein kann für eine Weiterentwicklung des kulturellen Denkens, Verstehens und Handelns.

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