12.11.2020

Autor*in

Christian Horn
ist forschender Kulturmanager für Formate der Erinnerungskultur, Museumskonzepte und Ökosysteme für kreatives Tun. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Betriebswirtschaft sowie nach Berufsstationen bei Kulturbetrieben im In- und Ausland ist er seit 2022 Kulturdirektor der Landeshauptstadt Erfurt.
Dirk Schütz
ist Gründer von Kultur Management Network und der Kulturpersonal GmbH. In den Bereichen Führung, Personalmanagement und Organisationsentwicklung arbeitet er als Berater, Coach und Trainer und unterrichtet als Dozent an Kulturmanagement-Studiengängen im deutschsprachigen Raum.
Potenziale und Schwierigkeiten der bürgerschaftlichen Teilhabe

Gewiss ist nur die Ungewissheit

Viele Kultureinrichtungen haben das Konzept des "Dritten Ortes" für sich entdeckt. Doch um sich zu einem solchen offenen, partizipativen Ort für die Gesellschaft zu entwickeln, braucht es die Beteiligung der zukünftigen Nutzer*innen. Wie das funktionieren kann, zeigt der Schloss- und Kulturbetrieb Altenburg.
Dirk Schütz: An sogenannten Dritten Orten gibt es keine Besucher*innen mehr, sondern die Menschen sind Teil davon, füllen sie mit Leben, greifen aktiv in das Geschehen ein. Diesen Ansatz greifen das Projekt Stadtmensch und der Masterplan "Spielewelt" in Altenburg auf. Was war zuerst da, die Idee zu den Projekten oder der Wunsch, bürgerschaftliches Engagement und/oder Stadtentwicklung zu betreiben? 
 
Christian Horn: Was zuerst da war, war die Gewissheit über die Ungewissheit. Und zwar, dass wir uns in einer Welt bewegen, bei der wir inzwischen wissen, dass die Vorstellung von Kontrolle eine Fiktion ist. Für uns als Mitarbeiter*innen des Schloss- und Kulturbetriebs Altenburg war der Ausgangspunkt aber erst einmal eine neue Tourismusstrategie für das Altenburger Land, die auf der Salonkultur des 19. Jahrhunderts aufbaut. Nähert man sich dieser Zeit, geht es nicht ohne eine intensive Beschäftigung mit dem Thema bürgerschaftliches Engagement. Denn die Salonkultur war Ausdruck einer politischen Krise und eines spürbaren gesellschaftlichen Umbruchs. Es gab neue Akteur*innen aus dem Bürgertum, die sich emanzipiert und immer mehr Einfluss gewonnen haben. Das ist eine spannende Parallele zur heutigen Zeit. Und sehr schnell kamen wir zu der Überlegung, wie wir die historische Salonkultur des Altenburger Landes nicht nur in gegenwärtige, sondern auch in zukünftige Museumsmodelle transformieren können. 
 
DS: War Ihnen dabei schon klar, dass das mit den bestehenden musealen Einrichtungen schwierig werden würde?
 
CH: Der herkömmliche Museumsbegriff kann nicht mehr greifen. Das Verständnis des Museums als bürgerliche Institution verspricht im Grunde eine Gewissheitserfahrung, die nicht mehr existiert. Diese Terra incognita zwingt uns dazu, dass wir spielerisch, neugierig, offen, reflexiv und agil vorgehen. Und diese Fähigkeiten sind die Voraussetzung für ein neues kulturelles Selbstverständnis, bei dem nicht mehr allein die Mitarbeiter*innen der Kulturinstitutionen über die Inhalte bestimmen, sondern tatsächlich die gesamte Gesellschaft. Das Spiel ist dabei nicht nur "Forschungsgegenstand", es wird gleichzeitig zur Methode für Entwicklungen. Damit reformieren wir letztlich auch den Museumsbegriff. 
 
DS: Im Projekt Stadtmensch erhalten interessierte Bürger*innen ein Podium, um Erfahrungen, Bedürfnisse, Wünsche einzubringen. Also ein Projekt, um ein aktives Bürgertum zu stärken und die Motivation zu einer lebendigen, "bürgerschaftlichen" Stadtentwicklung weiter zu wecken? 
 
CH: Genau, das ist das Ziel. Wir haben dabei eine Hebammen-Funktion eingenommen. Beide Projekte sind zwar aus dem Schloss- und Kulturbetrieb hervorgegangen, sie wurden von uns initiiert und mit intensiver Netzwerkarbeit begleitet. Sie haben sich aber inzwischen weiterentwickelt und sich buchstäblich ihre eigenen Räume jenseits des Schlossbergs erobert. 
 
DS: Was hat sich aus dieser Arbeit für Sie als damaliger Kulturverantwortlicher der Stadt und für die Engagierten bei Stadtmensch entwickelt? 
 
CH: Für uns hier im Museum haben wir eine junge, motivierte Generation aufgebaut. Sie geben uns für unsere Arbeit viele wichtige Impulse, sind schon jetzt klasse Projektleiter*innen. Für die Stadtgesellschaft haben diese Projekte gezeigt, dass engagierte Bürger*innen wichtiger Teil der Stadtentwicklung sind, dass sie mitbestimmen können und sollen. Denn es gibt kein isoliertes Kuratorium, das bestimmt, was passiert. Die Prozesse sind schwellenarm, transparent und basieren auf öffentlicher Mitbestimmung. Wir haben Bürger*innen einen großen Teil der Verantwortung übergeben und sie sind bereit, diese zu tragen. 
 
DS: Was sind die Potenziale, die dieses Zusammengehen bietet? Was könnte man davon übertragen auf andere Museen oder generell auf andere Kultureinrichtungen? 
 
CH: Wir kommen erst einmal einem dringenden Bedarf nach: Durch die digitale Revolution gibt es bei Bürger*innen eine Erwartungshaltung, als Akteur*innen politischer Prozesse verstanden und behandelt zu werden. Dieses Defizit hat nun jene Kulturinstitutionen in eine Krise gestürzt, die meinen, ausschließliche Autorisierungsinstanzen zu sein. Themen können nicht mehr einfach top down durch die Direktion oder durch überalterte Beiräte gesetzt werden. Das hat Auswirkungen bis in die konkrete Ausstellungs- und Veranstaltungsplanung, also in die Programmarbeit. Das Verständnis von Kunst und Kultur und von einem "kulturellen Bildungskanon" entwickelt sich in der Gesellschaft weiter. 
 
Eins ist übrigens sicher: Auch ohne die Reformbereitschaft einzelner kultureller Einrichtungen geht das kulturelle Leben weiter. Gerade in der nachrückenden Generation beobachte ich, dass sie sich mit beeindruckendem Pragmatismus ihre Wege sucht, private Unternehmen oder große Stiftungen anspricht und ihre Dinge jenseits der alten Pfade realisiert. 
 
DS: Was würden Sie Kultureinrichtung mitgeben, die das auch versuchen möchten?
 
CH: Die Grundlage ist, den Bürger*innen zuzuhören und ohne eigene vorgefertigte Ideen und Vorstellungen in einen solchen Prozess einzusteigen. Man muss bereit sein, sich überraschen zu lassen. In dem Moment, in dem man sich in offenen Dialogsituationen befindet, passiert Folgendes: A: entwickeln sich Themen, von denen man gar nichts wusste. B: Wenn man diese tatsächlich auf die Agenda nimmt, hat man sie schon ganz anders in der Gesellschaft verankert. Für Mitarbeiter*innen von Kultureinrichtungen heißt das, dass sie viel mehr zu Moderator*innen von Prozessen werden. Und das ist gleichzeitig auch das Defizit: Dass die Kompetenzen, zu moderieren und Projektmanagement moderierend zu betreiben, fehlen. Außerdem geht man ein Risiko mit einem solchen Rollenmodell ein, denn man muss bereit sein, zu scheitern, weil der Weg nun mal ein offener ist. Wenn man in seinem professionellen Rollenverständnis so aufgestellt ist, dass man nicht scheitern darf, ist man eigentlich schon gescheitert. 
 
DS: Glauben Sie, dass das ein Weg wäre, Kultureinrichtungen noch besser im bürgerlichen Umfeld einer Stadt verankern zu können?
 
CH: Ich denke, es geht gar nicht anders. Alle müssen sich bei der Frage, was unser historisches Bewusstsein ist, einbringen. Das geht soweit, dass wir uns mit der Entwicklung von Verschwörungstheorien, Fake News, Hass und Manipulation auseinandersetzen müssen. Ich bin überzeugt, dass Bürger*innen ein sehr gutes Gespür dafür haben, wenn lediglich wenige Interessen einseitig bedient werden. Das ist ja der Grundverdacht, dem Politik heute - ob nun berechtigt oder unberechtigt - verstärkt ausgesetzt ist. Diesen sollten wir nach Kräften entschärfen, wozu aber viele Interessen anzuerkennen sind. Und wenn wir in unserem Selbstverständnis als Museen und Kultureinrichtungen daran vorbei schwimmen, haben wir ein Akzeptanzproblem. 
 
DS: War es schwierig, die Mitarbeiter*innen, die Betriebsgesellschaft und die Bürger*innen selbst zu überzeugen, dass deren Mitarbeit erwünscht ist, dass sich die Projekte vollständig öffnen?
 
CH: Sowohl bei der Mitarbeiterschaft des Schloss- und Kulturbetriebes als auch bei Bürger*innen, bei der Presse oder in der allgemeinpolitischen Wahrnehmung war es gar nicht schwierig, das zu vermitteln. Die öffentliche Akzeptanz, der Wunsch mitzugestalten und die Bereitschaft, diese Verantwortung gemeinsam zu tragen, ist in egal welchem Projekt meist größer als wir alle denken. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Kritisch wird es bei politischen und administrativen Entscheider*innenebenen und wenn dort diese Art zu arbeiten und ihr Wert noch nicht bekannt sind. Das war meine Aufgabe als Schloss- und Kulturdirektor, diese Überzeugungsarbeit zu leisten, aufzuzeigen, welche Strahlkraft das bei der Weiterentwicklung des Museumsbezirks entfaltet. 
 
Richtig schwierig wurde es allerdings im Maschinenraum der strategischen Entwicklung des Schloss- und Kulturbetriebs: Wenn man agil arbeitet, offene und partizipative Entscheidungsprozesse lebt, Diversität im Verständnis von Museen einfordert, dann kann es mit kommunalen Entscheidungsträgern oder im Netzwerk der Museums- und Kulturdirektoren zu einer Kollision von Zielvorstellungen kommen. Da werden dann die berühmten Glaubensfragen gestellt. 
 
DS: Also verbindet sich die Vision, demokratische Prozesse anzustoßen, mit einer Diskrepanz: Einerseits unterstützen demokratisch legitimierte Vertreter*innen den Prozess, andererseits sind die Konsequenzen einer neuen Governance nicht per se systemkonform? 
 
CH: Ja, es ist ein kompliziertes Geflecht. Vielleicht kann man das an einem Beispiel aufzeigen, das sich so öfter in Deutschland wiederfinden lässt: Nehmen Sie ein Schloss als Nukleus des kulturellen Lebens einer Stadt. Die Tatsache, dass eine heruntergekommene Fassade hergerichtet werden muss, ist bei politischen Entscheider*innen schnell mehrheitsfähig. Denn ein Schloss soll immer irgendwie "Neuschwanstein" sein. Es ist ja auch ein touristischer und wirtschaftlicher Faktor. Kommen Sie aber als Direktor und möchten einen Raum haben, der mit Medientechnik und Internet ausgerüstet, von den Schließ- und Sicherheitssystemen abgekoppelt ist, damit dort Bürger*innen mit Netzwerkpartner*innen abends oder jenseits der Öffnungszeiten arbeiten können, dann bekommen sie das kaum als Priorität Eins der Investitionsmaßnahmen verankert. Aber dieser Ort innerhalb des Schlosses, an dem wir gemeinsam über Geschichte, Gegenwart und Zukunft nachdenken können, ist das A&O. 
 
DS: Das klingt so, als würde der alte Begriff des Schlosses als Ort der Repräsentation in den Gedanken von Entscheider*innen weitergetragen werden? 
 
CH: Schlösser waren viel mehr als Orte der rein feudalen Repräsentation. Historisch waren sie immer Schmelztiegel sehr unterschiedlicher Prozesse: Politik, Religion, Wirtschaft und Macht. Schlösser waren immer auch Akademien, Handelsplätze von Wissen. Die Tatsache, dass wir unsere Schlösser verneuschwansteint haben, hat viel mit dem Geschichtsbewusstsein des 19. Jahrhunderts zu tun. Seitdem versuchen wir, unsere Schlösser nach Idealvorstellungen zu restaurieren, und all zu oft sind sie am Ende funktionale, ausgehöhlte und tote Bauten, in denen nicht mehr nachgedacht, nicht mehr agiert wird, keine neuen Wege gegangen werden. Natürlich müssen wir die Schlösser restaurieren, Sammlungen sichern, kunstgeschichtlich arbeiten. Aber die Tatsache, dass es Lebensorte waren und sind, bleibt dabei oft auf der Strecke und verbaut uns den Weg zu Nachwuchs, Forschungsneugier und Identifikation. Was mich an dieser Stelle tatsächlich wütend macht, ist, dass die Fürsprecher*innen dieses längst überholten Museums- und Schlossbegriffs sich mitunter aufspielen, als würden innovative Museums- und Schlosskonzepte eine Trivialisierung und den Untergang des Abendlandes bedeuten - obgleich gerade diese Stimmungsmacher*innen es sind, welche die Historizität ihrer Vorstellungen noch gar nicht reflektiert haben. 
 
DS: Nun gibt es das Projekt Spielewelt. Ist das dann ein völlig neuer Ort? Oder ist sie eingebettet in das Ensemble des Museums?
 
CH: Die Spielewelt war ursprünglich im Prinzenpalais des Residenzschlosses Altenburg geplant. Sie sollte das Museumsquartier im Schlosspark stärken. Zwischenzeitlich ist sie zentraler Baustein der Innenstadtentwicklung geworden und wird ausschließlich für ein Gebäude in der Innenstadt, das Josephinum, geplant. Leider hat das auch etwas damit zu tun, dass es Stimmen gab, die das Thema Spiel in einer hochwürdigen Schlossumgebung nicht richtig aufgehoben sahen. Größere Nettoflächen im Prinzenpalais, Synergien im gemeinsamen Vertrieb und Betrieb mit dem Residenzschloss und dem Lindenau-Museum wurden hintenangestellt. 
 
Und damit sind wir wieder bei der Vorstellung dessen, was Schloss heute sein darf und nicht sein darf. Es hat etwas mit den Vorstellungen von Hochkultur und von Soziokultur zu tun. Und das ist für die Konstruktion Spielewelt durchaus problematisch, weil es gerade nicht darum geht, Spiel auf das Triviale, auf eine bloße Form von Bespaßung zu reduzieren. Spiel ist eine zentrale Kulturtechnik. Geschichtsmuseen und ihre akademischen Ausbildungsgänge hinken der Zeit und solchen Ideen noch stark hinterher. Die Kunst ist hier schon deutlich weiter. Es wäre der Schritt gewesen, das Schloss selbst wieder als Teil des gegenwärtigen Gesellschaftslebens zu reanimieren. 
 
Die ausführliche Version dieses Interviews erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Verantwortung".

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