18.02.2022

Themenreihe Besucherforschung

Autor*in

Birgit Mandel
ist seit 2019 Leiterin des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und dort Professorin für den Bereich Kultur und Management sowie Kulturvermittlung.
Theater in der Legitimationskrise?

Die Neujustierung des Verhältnisses der öffentlich getragenen Theater zu Publikum und Bevölkerung

Die insgesamt 142 Stadt-, Staats- und Landestheater erhalten den höchsten Anteil öffentlicher Kulturförderung in Deutschland und stehen damit immer wieder in der Kritik und unter hohem Rechtfertigungsdruck. Wie relevant sind sie (noch) für das kulturelle und gemeinschaftliche Leben? Wen erreichen sie überhaupt mit ihren Angeboten, repräsentieren Sie die Bevölkerung in ihrer Diversität? Ergebnisse eines Forschungsprojekts.

Themenreihe Besucherforschung

Die deutsche Theaterlandschaft zeichnet sich im internationalen Vergleich durch ihre hohe Dichte, Institutionalisierung und hohe öffentliche Förderung aus. Jede größere Kommune in Deutschland verfügt über ein öffentlich getragenes, meist zentral gelegenes Theater. Die als zentrale Repräsentationsstätten geschaffenen Stadt- und Staatstheater sind in ihren Platzkapazitäten heute häufig überdimensioniert und mit hohen Kosten verbunden. Sie sind damit in besonderer Weise abhängig von der Wertschätzung bei kulturpolitischen Akteuren, Fachöffentlichkeit, Publikum sowie der Bevölkerung. 
 
Befinden sich die Stadt- und Staatstheater in einer Publikums- oder mehr noch in einer Legitimationskrise? Welche Erwartungen an Aufgaben und Programme der Theater und insbesondere an Publikums- und Teilhabeorientierung gibt es bei den unterschiedlichen Stakeholdern: der Kulturpolitik, der Theaterfachöffentlichkeit, dem Publikum, der Bevölkerung? Wie verorten sie sich selbst, und mit welchen Strategien reagieren sie auf eine u.a. durch demografischen Wandel, Migration, Digitalisierung veränderte Nachfragesituation? 
 
Diese Fragen wurden im Rahmen eines dreijährigen Teilprojekts des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim unter Leitung der Autorin empirisch aus folgenden Perspektiven untersucht: 
 
  • aus Sicht der Theater- sowie der kulturpolitischen Fachöffentlichkeit,
  • aus Sicht der Intendant:innen der deutschen Stadt-, Staats- und Landestheater anhand einer repräsentativen Befragung, 
  • aus Sicht von Theaterschaffenden in drei ausgewählten Theatern mit qualitativen Befragungen und Analysen der jeweiligen Audience Development Strategien,
  • aus Sicht der Bevölkerung, des Publikums und der Nicht-Besucher:innen mit Hilfe einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zu kulturellen Interessen, Nutzung von Theater und Einstellungen zum Theater und seiner öffentlichen Förderung sowie durch eine Sekundäranalyse bestehender Publikumsstudien.
Dabei handelte es sich um ein Verbund-Forschungsprojekt, das die LMU München initiierte und die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte. Nachfolgend einige zentrale Ergebnisse.
 
Finanzierungs-und Strukturkrise im Diskurs der Fachöffentlichkeit dominierend
 
Vor allem die Theaterfachöffentlichkeit beschreibt eine Finanzierungskrise der öffentlichen Theater, die spätestens seit der Wiedervereinigung anhält und für die vor allem die Kulturpolitik verantwortlich gemacht wird. Die Krisendiskurse machen sich insbesondere an den hohen Kos-ten und unflexiblen Strukturen der Stadt- und Staatstheater mit je eigenem Ensemble, eigenen Gewerken, großem Verwaltungsapparat, Repertoire-Spielplan, renovierungsbedürftigen Immobilien fest; seit einigen Jahren auch an ihrer für Machtmissbrauch anfälligen hierarchischen Führung. Nicht in Frage gestellt wird die Ensemble-Struktur. 
 
Im Zuge der demografischen Veränderungen v.a. durch Migration wird zudem häufiger die Frage nach der Relevanz der Theater für eine von zunehmender Diversität gekennzeichneten Bevölkerung und "Stadtgesellschaft" gestellt. Den Theatern wird dabei vorgeworfen, diese weder auf der Bühne, im Personal noch im Publikum zu repräsentieren. Kaum diagnostiziert wird eine "Publikumskrise".
 
Der Diskurs um Nachfrage- und Teilhabeorientierung in der Theaterfachöffentlichkeit zeigt ein ambivalentes Bild. Zwar wird eine gesellschaftliche Verantwortung der Theater für eine "diverse Stadtgesellschaft" betont: Dabei dürfe jedoch die Integrität der Kunst durch Unterhaltungsorientierung nicht infrage gestellt und Theater nicht zur Sozialarbeit werden.
 
Tendenziell rückläufiges Publikumsinteresse vor allem bei nachwachsenden Generationen
 
Weniger als 10 Prozent der Bevölkerung besuchen derzeit häufiger ein Theater. Zu diesem Ergebnis kam die Bevölkerungsbefragung der Universität Hildesheim zu Interesse, Besuch und Einstellungen zum öffentlich geförderten Theater. Etwa die Hälfte der Befragten gehört zu den Nie-Besucher:innen. Vor allem in der jüngeren Generation verlagert sich das Interesse auf andere Kulturformen, insbesondere popkulturelle Events. Auch die Theaterstatistik zeigt im Zeitvergleich rückläufige Besucherzahlen bei den Stadt- und Staatstheatern. 
 
Hauptsache, die Auslastung stimmt: Kaum Forderungen nach Veränderungen durch Kulturpolitik
 
Die Befragung der Theaterleitungen kam zu dem Ergebnis, dass die Kulturpolitik nur selten programmatische Veränderungen von den geförderten Theatern in Bezug auf Mission, Aufgaben, inhaltliche Ausrichtung, Spielplan, Formate fordert, so lange die Auslastungszahlen stimmen und es ein ausgeglichenes Budget gibt. Damit überlässt Kulturpolitik den Theatern zumeist auch die Verantwortung für zukunftssichernde Strategien und bietet keine Unterstützung für notwendige Transformationen. 
 
Zugänglichkeit für alle und Unterhaltung als zentrale Erwartungen der Bevölkerung an Theater
 
Zwar sieht die Bevölkerung und insbesondere das Kernpublikum in der Präsentation von klassischen und aktuellen Stücken weiterhin eine wesentliche Aufgabe der Theater.  An erster Stelle wird jedoch eine hohe Zugänglichkeit für alle Bevölkerungsgruppen durch günstige Preise, durch spezifische Programme für Kinder und Jugendliche und durch verständliche und humorvolle Stücke und Inszenierungen erwartet. Verbreitetet ist zudem die Auffassung, dass Theater nicht nur ein Ort für Kunstpräsentationen, sondern auch ein Treffpunkt für die Bevölkerung der Stadt sowie ein Raum sein sollte, an dem gesellschaftliche und politische Diskussionen angestoßen werden. 
 
Breiter Konsens in der Bevölkerung für öffentliche Theaterförderung
 
Das Image der Theater ist deutlich besser als die Nutzung und selbst bei den Nie-Besucher:innen spricht sich die weit überwiegende Mehrheit dafür aus, Theaterförderung mindestens auf bisherigem Niveau zu halten oder sogar zu erhöhen. Damit scheint aktuell die Legitimität der öffentlich getragenen Theater in der Bevölkerung nicht in Frage gestellt zu sein. Allerdings zeigt sich eine geringere Zustimmung zur Theaterförderung bei den jüngeren Generationen. 
 
Hohe Dynamik in der Entwicklung neuer, teilhabeorientierter Maßnahmen 
 
Mit einem breit aufgestellten Spielplan, der sowohl Komödien, bekannte Namen, Klassiker des Kanons wie auch neue Stücke mit gesellschaftspolitischem Anspruch bietet, versuchen die meisten Theater unterschiedliche Publikumsinteressen abzubilden. Dabei ist es für Theater außerhalb von Metropolen und touristisch attraktiven Städten deutlich schwieriger, ausreichende Nachfrage zu generieren.
 
Zudem ergreifen die Theater vielfältige Maßnahmen, vor allem im Bereich kultureller Bildung, und entwickeln neue Formate und partizipative Projekte, mit denen diverse Gruppen der Stadtgesellschaft adressiert werden. Die Einführung solcher Maßnahmen ist offensichtlich weniger von einer als krisenhaft wahrgenommenen Publikumsentwicklung ausgelöst worden, denn nur wenige der befragten Intendant:innen der Stadt- und Staattheater haben zum Befragungszeitpunkt Anfang 2020 einen Rückgang des Publikums für ihr Theater wahrgenommen. Ebenso gibt es selten Vorgaben von der Kulturpolitik, um neue Zielgruppen zu erreichen. Stattdessen kann hierfür eher ein Wandel der "Rechtfertigungsmythen" in der institutionellen Umwelt der Theater als ausschlaggebend gesehen werden: Dass der Staat öffentlich getragene Theater zu finanzieren habe, um die Produktion anspruchsvoller Kunst vor Markteinflüssen zu schützen, scheint als alleiniger Legitimationsmythos nicht mehr zu genügen. Für die öffentlich getragenen Theater ist der normative Druck gestiegen, pro-aktiv einen Beitrag zur Inklusion von bisher nicht erreichten, sozial und kulturell heterogenen Bevölkerungsgruppen zu leisten. 
 
Fazit: Theater zwischen Nachfrage- und Teilhabeorientierung, Pfadabhängigkeit und Transformation
 
Die öffentlich getragenen Theater in Deutschland sind in ihren traditionellen Strukturen und institutionalisierten Erwartungen an Theater verhaftet. Zugleich stehen sie aufgrund einer veränderten Nachfragesituation, veränderter kultureller Interessen und wachsender Ansprüche an kulturelle Teilhabegerechtigkeit unter hohem Veränderungsdruck.
 
Um den unterschiedlichen Erwartungen der verschiedenen Publikumsgruppen wie der Fachöffentlichkeit gleichzeitig zu entsprechen und ihre Legitimität zu wahren, greifen Stadt- und Staatstheater zu Entkopplungsstrategien. Sie versuchen einerseits, ihr (Stamm-)Publikum zu konsolidieren mit einem häufig am Kanon orientierten Spielplan. Andererseits wollen sie ihre gesellschaftliche Verantwortung durch Kooperation mit Bildungs- und Sozialeinrichtungen sowie dem Einbezug gesellschaftlicher Randgruppen demonstrieren. Die vielfältigen neuen Maßnahmen im Bereich Kulturelle Bildung und kulturelles Community Building sind in der Regel nicht begleitet von organisatorischen Transformationsprozessen wie z.B.:
 
  • neue Führungsmodelle (flache Hierarchien); 
  • diversifiziertes Personal und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit; 
  • veränderte Gesamtmission und etwa Fokussierung auf das Ziel einer diverseren Publikumsstruktur sowie 
  • ein grundlegend verändertes Programm (z.B. mit Abkehr von Repertoire). 
Um solche strukturellen Transformationen durchzuführen benötigen Theater auch Unterstützung durch ihre Zuwendungsgeber:innen mit klaren Zielvorgaben ebenso wie Freiräume, um neue Arbeitsweisen ausprobieren zu können.
 
Der Strukturwandel der Kulturnachfrage gefährdet die Legitimität der öffentlich getragenen Theater. Das bisherige Kernpublikum dürfte schon aus demografischen Gründen schrumpfen und neues, bislang weniger theateraffines Publikum in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, erweist sich nach vorliegenden Erfahrungen als schwierig. Ein Weg könnte darin bestehen, die vorhandene Publikumsbasis durch eine stärkere Aktivierung des bisherigen Gelegenheitspublikums und der potenziell Interessierten zu erweitern. Mit welchen Programmen, Formaten und Kommunikationsstrategien dies gelingen kann, zeigen etwa Erfahrungen des Städtischen Theaters Chemnitz und des Theaters für Niedersachsen: Bekannte Stoffe, bekannte Namen, die Anknüpfungspunkte auch für ein weniger kunstaffines Publikum bieten; Komödien und Comedy, Musiktheater sowie neue Rezeptionsformate in Verbindung mit gastronomischen Angeboten, die Raum auch für soziale Begegnungen ermöglichen sowie interdisziplinäre städtische Kulturereignisse mit Strahlkraft.  
 
Auch teilhabeorientierte, partizipative Projekte mit nicht-kunstaffinen Gruppen könnten in eine Strategie der Gewinnung von neuem Publikum einzahlen. Daraus können Anregungen für neue Themen, neue künstlerische Ansätze und ästhetische Formate gewonnen werden, die dazu beitragen könnten, für eine diversere Bevölkerung attraktive Programme zu gestalten.
 
Langfristig können intensivierte Programme qualitativ hochwertiger kultureller Bildung und dauerhafte Kooperationen von Theatern mit Schulen und anderen Organisationen dazu beizutragen, bei zukünftigen Generationen nachhaltig Interesse an Theater auszubilden. Dafür müssen, so zeigen Ergebnisse verschiedener internationaler Audience Development Studien, auch Ziele, Mission und Strukturen von Einrichtungen mit langer Tradition befragt und verändert werden - also ihre Programmpolitik, ihre Abteilungen, ihr Personal, ihre Art der Führung. 
 
Dass die öffentlichen Theater aktuell noch über eine hohe Wertschätzung in der Bevölkerung verfügen ist eine gute Ausgangsbasis für strukturelle Veränderungen. Diese sollten das Ziel haben, die darstellenden Künste in einer hohen künstlerisch-kulturellen Qualität auf neue Weise für das Zusammenleben in der Gesellschaft produktiv werden zu lassen.  
 
Dieser Beitrag erschien zuerst im freien Teil des Kultur Management Network Magazins Nr. 162: "Werbung im Kulturbetrieb".
 
Detaillierte Ergebnisse
 
  • Mandel, Birgit/ Burghardt, Charlotte/ Nesemann, Maria (2021): Das (un)verzichtbare Theater? Strukturwandel der Kulturnachfrage als Auslöser von Anpassungs- und Innovationsprozessen an öffentlich getragenen Theatern in Deutschland. Universität Hildesheim, Open access: https://doi.org/10.18442/192.

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