19.04.2021

Buchdetails

Älterwerden als Kulturschaffende: Von 0 auf 100?
von Hg. v. Olaf Zimmermann und Theo Geißler
Verlag: Deutscher Kulturrat
Seiten: 56 Seiten
 

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Autor*in

Anna Grube
war während Schule und Studium freie journalistische Mitarbeit bei lokalen Tageszeitungen. Sie studierte Englisch, Deutsch und Spanisch im Bachelor-Studiengang "Mehrsprachige Kommunikation" sowie das Kontaktstudium Kulturmanagement an der PH Ludwigsburg und absolvierte mehrmonatige Auslandsaufenthalte in den USA, Ecuador und Peru. Sie war als Kulturmanagerin an der Universität Bielefeld tätig, aktuell im Bereich Gastspiele und Schulvorstellungen an der Württembergischen Landesbühne Esslingen.
Buchrezension

Älterwerden als Kulturschaffende - Von 0 auf 100?

Auch Menschen im Kulturbetrieb werden älter. Doch bisher hat sich kaum jemand damit beschäftigt, was das für sie, ihr Arbeiten und auch ihre Darstellung im kulturellen Kontext bedeutet. Diese Lücke füllt das Dossier "Älterwerden als Kulturschaffende" des Deutschen Kulturrats.
 
Das 52-seitige Dossier, herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler, besteht zum einen aus transkribierten Interviews mit Künstler*innen und Kulturschaffenden aus verschiedenen Sparten, und zum anderen aus einer Fotoserie. Sehr persönlich und individuell wird das Altern im Kultursektor im weitesten Sinne beleuchtet, und dabei lassen sich zwei Themenkomplexe zusammenfassen, die sich wie ein roter Faden durch alle Gespräche ziehen:
 
  • Das Alter und die damit gewonnenen Erfahrungen möchte keiner der alternden Kulturschaffenden missen: Bessere und differenzierte Menschenkenntnis kommt dem künstlerischen und organisatorischen Schaffen in jeder Hinsicht zu Gute.
  • Frauen werden im Vergleich zu Männern mit Zunahme des Alters gesellschaftlich und beruflich sehr viel stärker herabgewürdigt. Dadurch müssen Frauen sich im Beruf und hinsichtlich gesellschaftlicher Akzeptanz deutlich mehr behaupten als ihre männlichen Kollegen.
Hans Jessen, freier Journalist und Publizist, und Cornelie Kunkat, Referentin für Kultur & Medien beim Deutschen Kulturrat, stellen die Interview-Fragen. Sieben Frauen und zwei Männer zwischen 54 und 85 Jahren kommen dabei zu Wort. 
 
Flankierend zu den Interviews sehen wir thematisch frei assoziierte schwarz-weiß-Porträts des dänischen Fotografen Keen Heick-Abildhauge. Er fängt Alltagsmomente russischer Bürger*innen ein und versieht seine Fotografien mit einem persönlichen Statement zu Träumen und Wünschen der abgebildeten Personen. Blättert man durch das Dossier, werden diese Personen mit Zunahme der Seitenzahlen immer älter: anfangs eine 10-jährige Schülerin, die einmal Millionärin werden möchte, und am Ende eine 100-jährige Arbeiterin bei einer Tasse Tee. Diese fotografischen Einschübe lockern den Text auf, machen die Broschüre anschaulich und geben zusätzliche Anstöße für eigene Gedanken und Assoziationen. 
 
Olaf Zimmermann stellt in seiner Hinführung "Befeuernde Endlichkeit" die nötige Aufwertung und Wertschätzung des Alterungsprozesses in den Kontext der demografischen Entwicklung in Deutschland. Das biologische und soziale Altern müssten mehr als Chance und weniger als Makel begriffen werden, um der absehbaren Entwicklung entgegenzuwirken, dass die geburtenstarke Generation der Babyboomer (Jahrgänge 1946-1964) mit dem Eintritt ins Rentenalter nicht nur die Sozialkassen überfordert, sondern auch eine deutliche Lücke im (Kultur-)Arbeitsmarkt hinterlässt.
 
In ihrer Einführung "Alter ist sozial konstruiert" attestiert Cornelie Kunkat unserer Gesellschaft ein "undifferenziertes Altersbild" und stellt die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Älterwerden. Eklatant sei der Unterschied zwischen Männern und Frauen: Frauen sehen sich sehr viel früher und stärker mit sozialer Herabwürdigung aufgrund ihres Alters konfrontiert als ihre männlichen Zeitgenossen - besonders dann, wenn ihr Schaffen eng mit ihrer körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit verbunden ist, wie es im Kulturbereich oft der Fall ist. Dafür führt sie den soziologischen Begriff des "doing aging"(S.8) und in damit verbundene geschlechtsspezifische Zuschreibungen ein . 
 
Der Begriff "Doing Aging" wurde vom Soziologen Klaus Schroeter geprägt (Klaus Schroeter: Die Normierung alternder Körper - gouvernementale Aspekte des doing age. In: Silke van Dyk, Stephan Lessenich (Hgs.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. Main 2009, 359-379). Er beschreibt, dass das Alter eines Menschen neben der Anzahl an gelebten Jahren eine soziale Konstruktion ist, die mit einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung verbunden ist, sich altersgemäß zu verhalten.
 
Der Begriff "doing gender" (S. 32), der ebenfalls im Dossier stets mitschwingt, geht auf die Soziologen Candace West und Don Zimmerman zurück (Candace West & Don H. Zimmermann: Doing Gender. In: Gender & Society 1987 Heft 2/1, 125-151) und zielt in die gleiche Richtung: Es gibt neben dem biologischen das soziale Geschlecht, das wiederum mit gesellschaftlichen Normen verbunden ist, denen die Zuschreibung "männlich" oder "weiblich" anhaften.
 
Eine von Kunkat zitierte Studie zu weiblichen und männlichen Geschlechterdarstellungen in Fernsehen und Kino (Elizabeth Prommer und Christine Linke: "Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland”, 2017) liefert dazu passende, eindrückliche Erkenntnisse: Frauen ab 40 verschwinden zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung, ihre gesellschaftliche Verantwortung wird medial kaum abgebildet. Damit macht sie deutlich, dass der Kulturbetrieb selbst in seiner Darstellung der Geschlechter zu dieser Diskriminierung beiträgt. Kunkat verbindet diese Erkenntnis mit den Fragen, wie gesellschaftliche Rollenbilder auf Männer und Frauen einwirken und ob Quoten, Kampagnen oder die Hinterfragung unserer Lebensweise Antworten geben könnten auf diese Art der Diskriminierung.
 
Auf der Bühne und vor der Kamera
 
Es werden zwei Frauen zu ihrer Laufbahn befragt, bei denen auch ihr Äußeres zur Ausübung ihrer Profession zum Tragen kommt: Die Kabarettistin und Regisseurin Gerburg Jahnke (*1955) und die Journalistin und Publizistin Bascha Mika (*1954). Beide kennen das Phänomen aus eigener Erfahrung. Bascha Mika hat diese Form der Altersdiskriminierung den "Verschwinde-Fluch" genannt. Es wird deutlich, wie viele positive Seiten die beiden Frauen im Mediengeschäft ihrem Alter abgewinnen können - Erfahrung, Menschenkenntnis und Selbstsicherheit - und wie wenig diese Kompetenzen in der Realität wertgeschätzt werden. Ebenso erwächst aus diesen gestandenen Karrieren eine kämpferische Haltung, die in beiden Fällen in ihr Engagement als Nachwuchs-Mentorin mündet.
 
Im Atelier und in der Galerie
 
Die beiden bildenden Künstlerinnen Ila Wingen (*1961) und Ursula Sax (*1935) attestieren auch dem internationalen Kunstmarkt eine altersdiskriminierende Seite. Eine deutliche Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung wird in ihren Schilderungen deutlich: Sie selbst fühlen sich in ihrer Kunst alterslos und sehen keine altersbedingten Barrieren, ihre Kunst auszuüben. Die Realität ist eine andere: Der Kunstmarkt vermittelt schwerpunktmäßig Kunst junger Künstler*innen als neu, interessant und bedeutsam. Auch der Galerist Gerd Harry Lybke (*1961) erkennt diesen Zwang, dass sich Künstler*innen bis 30 oder 40 einen beachtlichen Erfolg erarbeiten zu müssen, um im Geschäft zu bleiben. Auch die Förderprogramme und der Fokus der Öffentlichkeit beschränken sich weitgehend auf Künstler*innen bis 35. Lybke selbst setzt auf langjährige Beziehungen, die den gegenseitigen Respekt und das Verständnis füreinander vertiefen. Er sieht die Kunst und das Verständnis dafür losgelöst vom Alter als eine Frage des Sich-einlassen-Könnens und des Charakters. Künstler*innen kommt dabei eine Fokussierung bis Kompromisslosigkeit zugute, die eher männlichen Zeitgenossen zugeschrieben werden.
 
Hinter der Kamera und dem Regiepult
 
Von diesen egozentrischen Charakterzügen spricht auch der Regisseur Hans Steinbichler (*1966). Als junger Regisseur, der von alternden Ehepaaren erzählen wollte, musste er sich zunächst Vertrauen erarbeiten. Er hat gerne und gezielt von älteren Kollegen gelernt und war selbst immer der Jüngste. Er beklagt das Frauenbild im deutschen Fernsehen und achtet auf ein differenziertes, gleichberechtigtes Frauenbild in seinen Filmen. Mit Frauen könne er "rationaler und rationeller Probleme bearbeiten" (S. 37). Wichtig ist ihm das Bewusstsein für die Geschichte, nicht für das Geschlecht. 
 
Auch Sasha Waltz, Choreografin und Regisseurin (*1963), beobachtet vor allem bei Frauen einen perfektionistischen Anspruch, wodurch der Hang bestehe, sich selbst zu hemmen. Sie ist sich sicher, dass ihr Lebensweg als Mann ein anderer gewesen wäre, zumal der Theaterbetrieb immer noch sehr männlich dominiert ist. Sie ist von einem gemischten Leitungsmodell aus Mann und Frau überzeugt und findet die Möglichkeit für Familienplanung im künstlerischen Betrieb sehr wichtig. Ihr Kernensemble ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, gleichzeitig bildet sie junge Tänzer*innen aus und ermöglicht ihnen im Rahmen ihres Programms "Choreographen der Zukunft" eine Weiterentwicklung hin zu selbständiger Arbeit. Auch Madeleine Ritter, Juristin, Vorstandsvorsitzende der Pina Bausch Foundation und Geschäftsführerin von Diehl + Ritter fördert mit ihrer Initiative "Dance On" gezielt Tänzer*innenkarrieren jenseits der 40: Sie leitet ein eigenes Ensemble, das europaweit richtungsweisend wurde und das Problem der Altersdiskriminierung aufzeigt.
 
Empfehlung und Weiterführung 
 
Insgesamt enthüllt das Dossier keine brandneuen Erkenntnisse oder Forschungsergebnisse - spannend und lesenswert wird es jedoch durch die Kollage von Fotografien und persönlichen Anekdoten, die den Leser*innen die Kernaussagen anschaulich und unmittelbar vor Augen führen. 
 
Hans Jessen und Cornelie Kunkat gehen bei ihren Fragen systematisch vor, was ebenfalls positiv hervorzuheben ist. Der Fragenkatalog ist strukturiert und zielt bewusst auf bestimmte Themen und Lebensphasen des Gegenübers ab. Die beiden haben sich offensichtlich intensiv mit ihren Interviewpartner*innen beschäftigt, allerdings vermisst man an manchen Stellen ein wenig Spontanität, durch die die Geschichten noch an Lebendigkeit und Tiefe gewonnen hätten.
 
Die befragten Kulturschaffenden sind allesamt Menschen, die auf eine erfolgreiche Karriere im Kulturbereich zurückblicken können oder zumindest einen Weg gefunden haben, von ihrer Kunst zu leben - ein Aspekt, dessen elitäre Färbung man den Autor*innen vorwerfen könnte, wenn man nach einem Makel sucht. 
 
Insgesamt ist das Dossier gelungen, da es die Leser*innen aufgrund der persönlichen Interviewform berührt, Anknüpfungspunkte und Identifikationspotenzial bietet. Relevanz haben das Dossier und die angesprochenen Themen damit für Kulturschaffende aller Sparten, jedoch aufgrund der sozialwissenschaftlichen Ausrichtung und anschaulichen Aufbereitung auch für die breite Öffentlichkeit. Durch die prägnanten Kernaussagen stellt das Dossier Fragen an uns als Gesellschaft und gibt implizit Anlass zum Umdenken.

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